Wir müssen reden
"Let your ( ) do the talking, eyes, knee, whatever" im Neuen Aachener Kunstverein

5. Oktober 2022 • Text von

Was ist Sprache? Wie treten wir in Kommunikation miteinander? Über Laute, über Gesten, über Bewegungen, letztlich mit all unseren Sinnen. Irgendwo zwischen Struktur und Chaos, zwischen Mehrsprachigkeit und Sprachlosigkeit, finden wir Worte, ob mit der Zunge, den Augen oder dem Knie. In der Gruppenausstellung “Let your ( ) do the talking, eyes, knee, whatever” im Neuen Aachener Kunstverein widmen sich etablierte und junge Kunstschaffende der Kommunikation mit und ohne Worte, lassen Spielräume für eigene Gedanken.

06 min
Marcel Hiller, WET, 2021, Courtesy: the artist, NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

Rote, blaue, gelbe Stahlrohre, die im Efeu an der Fassade sitzen, bis über den Rand des Dachs klettern, als skulpturale Interventionen auf Podesten im Garten hocken, wie schwerelos in der Luft hängen. Jede Skulptur ein Wort, konkrete Poesie, in ihrer Erscheinung schon Aussage genug. Die geometrischen Strukturen greifen in den umgebenden Raum aus, überziehen die Außenanlage des Neuen Aachener Kunstvereins (NAK). Als skulpturale Zeichen entstammen sie einer eigens entwickelten Typologie des Künstlers Marcel Hiller, sind für die Betrachtenden kryptisch bis die Titel Auflösung gewähren, als Übersetzung funktionieren. Gemeinsam mit den Titeln lassen sich “LESS SKIN WET WE NEW” einzeln wie zusammen lesen, fügen sich optisch wie semantisch zu einer Art Gedicht. Die Worte schlagen als materialisierte Blitze ein, deren Bedeutung auch ohne Titel verstanden werden kann, wenn beispielsweise “SKIN” sich wie eine zweite Haut über die Fassade des Kunstvereins legt.

01 min
Stefan Marx, Sad Generation With Happy Pictures, 2021, Courtesy: the artist; Marcel Hiller, NEW, 2021/2022, Courtesy: the artist; NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

Monty Richthofens Kunst geht direkt unter die Haut. Ganz wörtlich genommen, wenn er Menschen tätowiert, ohne dass sie vorher wissen, was sie ein Leben lang auf ihrem Körper tragen werden. Aber auch, weil seine kurzen Texte in all ihrer Härte schmerzlich ehrlich sind, Licht in die Dunkelheit eines verletzlichen Ichs werfen. Oft sind es Gedanken, die wie in Schleifen ihre Kreise ziehen und als Wahrheiten nachts aus sprachlosem Dunst aufsteigen. Gedanken, die sich als Textsplitter erst durch ein tiefes Hineinhören in die Welt von eben dieser lösen, nur um dann als Stachel in den Augen der Betrachtenden zu sitzen.

25 min
Daniele Pusinanti, Watching Reels, 2022, Courtesy: the artist; Sophie Calle, Die Entfernung Soldat (Sowjetischer Ehrenfriedhof), 2022, Courtesy: Sammlung Peters-Messer; Monty Richthofen, IT’S HARD TO SUNBATHE IN THE CENTER OF ATTENTION, 2022, Courtesy: the artist; NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

“IT’S HARD 2 SUNBATHE IN THE CENTER OF ATTENTION” steht in großen schwarzen Lettern auf rotem Grund, geschrieben von einem Künstler, der sich in seiner Doppelrolle als Teil des KuratorInnenteams selbst ausstellt. Zugleich wird im Scheinwerferlicht medialer Aufmerksamkeit das Bad in der Menge zum Spiel mit dem Feuer, wenn sich verbrennt, wer der Sonne allzu nahekommt. Denn auf den Social Media Accounts einer nach Stefan Marx “Sad Generation With Happy Pictures” wird das Leben zur perfekten Inszenierung, sind sich in Aufmerksamkeit Sonnende schnell bis auf die Grundfeste ihrer selbst hin ausgebrannt.

33 min
Kyrill Constantinides Tank, 6 Zeichnungen mit Titel, 2018, Courtesy: the artist, NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

Die eigene künstlerische Arbeit reflektiert auch Kyrill Constantinides Tank, der im kleinen Format von seinem Arbeitsalltag im Museumsshop erzählt, bebilderte Lyrik schafft. Worte wie “Einbläuen” hängen neben schlichten Zeichnungen. In diesem Fall neben einem mit wenigen Linien skizzierten Höhlenmensch vor einer Skulptur, die auf einem Sockel platziert ist. Es scheint, als solle dem vermeintlich ungebildeten Höhlenmenschen in den heiligen Hallen des Museums die hohe Kunst mit der didaktischen Keule eingebläut werden. Bei den Zeichnungen und der Lyrik handelt es sich um Ausschnitte aus der Publikation “Janus Neinus Vielleichtus”, die mit ironischem Augenzwinkern den Alltag vieler Kunstschaffender, das nicht immer ganz einfache Leben zwischen Kunst und Lohnarbeit wiedergibt.

32 min
Marianne Mispelaere, Silent Slogan, 2016/2022 (fortlaufend/ongoing), Courtesy: the artist, NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

Stumme Schreie, wortloser Protest, “Silent Slogans” sammelt Künstlerin Marianne Mispelaere. Da sind Geflüchtete, die mit gesenkten Köpfen mittels gekreuzter Handgelenke ihre prekäre Lage anprangern, gegen Sklaverei und die Unterbringung in Gefangenenlagern in Libyen protestieren. Oder aber Demonstrierende in Bangkok, die in Reminiszenz an die Romanreihe “The Hunger Games” mit erhobenem Arm und drei ausgestreckten Fingern gegen den Staatsstreich opponieren, der am 22. Mai 2014 die Verfassung in Thailand außer Kraft setzte.

Die zwischen 2010 und heute ausgeführten, auf einer genauen Beobachtung des Weltgeschehens beruhenden Gesten, die als einfache Handzeichen erst in einem bestimmten Kontext mit Bedeutung aufgeladen sind, stammen aus dem Internet und wurden von der Künstlerin auf Postkarten abgedruckt. Pazifistische wie aggressive Gesten, die dort zutage treten, wo sonst kein Dialog mehr möglich ist. Kostenlos dürfen Besuchende der Ausstellung zugreifen und die Botschaften selbst in die Welt hinaustragen. Protest mittels Geste erhält dieser Tage angesichts der Frauen, die sich im Iran anlässlich des Todes der jungen Mahsa Amini die Haare abschneiden, ganz besondere, traurige Aktualität. Was, wenn es stumme Schreie sind, die restriktive Gesellschaften zu Fall bringen? Wie sieht eine Welt aus, in der wortloser Protest tatsächlich Veränderung bewirkt?

29 min
Nicholas Warburg, Titelbild 3, 2020, Courtesy: Sammlung Peters-Messer; Havin Al-Shindy, Personae, 2019-2020, Courtesy: the artist; NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

Denn manchmal liegt etwas in den Leerstellen zwischen den Worten verborgen, im Missverständlichen, in Unklarheiten, mehr noch als im Gesagten selbst. Im etwas zu langen Zögern vor dem nächsten Satz, im Atem holen zwischen den Zeilen, in der Art wie ein Buchstabe ausgesprochen wird. Dann blitzt dort etwas auf, inmitten der Leerstelle, artikuliert sich im Ringen um ein einzelnes Wort. Manchmal liegt eben dieses Wort ganz vorne auf der Zunge, lässt sich gedanklich befühlen und ohne Mühe über die Lippen bringen. Und manchmal hängt es danach aneinandergereiht so schwer in der Luft, dass man es hätte im Nachhinein fast lieber heruntergeschluckt.

Bei Nicholas Warburg wiegen die Worte schwer, weil sie allzu gerne vergessene Wahrheiten aussprechen, sich mit einer Aufarbeitung der dunklen Kapitel deutscher Geschichte beschäftigen. “Titelbild 3” rekurriert auf der Historie des Suhrkamp-Verlags. Damaliger Lektor und Mitarbeiter Peter Suhrkamp übernahm 1936 – offiziell als Platzhalter – den Verlag S. Fischer, dessen rechtmäßige Besitzende das Land aufgrund der zunehmenden Bedrohung durch das Nazi-Regime verlassen mussten. In Folge des Krieges weigerte sich Suhrkamp jedoch, den Verlag auf die Familie Fischer rechtmäßig zurückzuführen, so dass diese den Autorenstamm an den Konkurrenten verlor.

17 min
Franca Scholz, Oh Body, 2020, Courtesy: the artist; Richie Culver, Germany Is Adorable, 2022, Courtesy: the artist and Ruttkowski;68; NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

Ist Deutschland also wirklich so “adorable” wie Richie Culver schreibt? Der gebürtige Engländer verliebte sich in das heutige Deutschland, insbesondere in Berlin, allen Vorurteilen zum Trotz. Zugleich Künstler und Nicht-Künstler bedient sich der Autodidakt der Grautöne des menschlichen Seins, fühlen sich seine Sprachbilder aufrichtig an, wenn er Einblick in seine innere Zwiesprache gewährt. Seine Kunst definiert sich oft durch das, was ihr fehlt, das vermeintlich Fehlerhafte. Fünf Jahre lebte er in Berlin, verarbeitete seine Erlebnisse im Berliner Nachtleben sowie Drogenerfahrungen in einem Buch, lernte jedoch die deutsche Sprache nicht und suchte für “Germany Is Adorable” nach einem eher nicht mit Deutschland assoziierten Wort.

30 min
Havin Al-Shindy, Personae, 2019-2020, Courtesy: the artist, NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

Was ist Heimat? Das Land, in dem man lebt, oder das Herkunftsland? Ist Sprache Heimat? Was aber, wenn eine Kultur zwischen Mehrsprachigkeit und Sprachlosigkeit changiert? Die Multimedia-Installation von Havin Al-Sindy beschäftigt sich mit der kurdischen Identität, deren Sprache lange Zeit als verboten galt. In der Videoinstallation “Personae” werden Köpfe und Gesichter zweier Menschen mit dicker Paste überzogen, wenn beide eine Lehmmaske des jeweiligen Gegenübers modellieren. Das Anfassen und Bedecken des Gesichts ist ein Akt, der gleichermaßen intim und gewalttätig anmutet. Woraus formt sich unsere Persönlichkeit? Ist sie immer Maske wie der griechische Ursprung des Wortes assoziiert? Oder offenbart sich in Sprache, was unter der Maske verborgen liegt?

18 min
Thomas Hirschhorn, Spinoza-Map, 2007, Courtesy: Sammlung Peters-Messer, NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

Weiche Worte, als schwebende Stoffe bei Franca Scholz, können trotzdem harte feministische Inhalte bergen. Einerseits sind Worte Ordnung, geben Struktur, bilden ein Gerüst wie das als begehbare Bodenarbeit im Eingangsbereich des NAK realisierte, kreisförmig um ein leeres Zentrum angelegte Performance-Diagramm von Boris Nieslony oder die “Spinoza Map” von Thomas Hirschhorn, die andererseits in ihrer Fülle trotzdem chaotisch wirken. Der unausgesprochenen Frage von Nieslony “Was ist Performance?” geht der Kunstverein mittels zahlreicher, die Ausstellung flankierender Performances selbst auf den Grund. Die Bandbreite reicht von einer Lesung und Buchvorstellung von Thomas Musehold bis zum Kochen und gemeinsamen Essen mit Mafia Tabak. Bildet doch die Nahrungszubereitung und -aufnahme traditionell einen Ort für Gespräche und kann als kuratiertes Menü selbst eine Geschichte erzählen.

10 min
Boris Nieslony, Performance Art-Kontext von Gerard Dirmoser und Boris Nieslony, 1993/1999-2001, Courtesy: the artist, NAK Neuer Aachener Kunstverein, Fotos: Simon Vogel.

“Let your ( ) do the talking, eyes, knee, whatever”, kuratiert von Luisa Schlotterbeck, Monty Richthofen und Maurice Funken, präsentiert uns Sprache als eigenständiges, empfindsames Organ, das sich vielgestaltig äußern kann. Schönheit liegt dabei oft jenseits des strengen Korsetts der Grammatik in Brüchigkeit, Ambivalenzen und Missverständnissen. Nicht zwangsläufig muss das Gesagte, das Geschriebene decodiert werden. Ein eigens entwickeltes Alphabet von Künstlerin Barbara Kapusta, in flammender Schrift geschrieben, jeder Buchstabe ein Feuer, kann auch ohne Übersetzung in der Seele brennen. Angesichts wachsender gesellschaftlicher Gräben muss Sprache das verbindende, nicht das trennende Element sein, sollten wir mit Worten, Augen, Knien oder was auch immer miteinander ins Gespräch kommen.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 30. Oktober. Am Finissage-Wochenende lädt der Kunstverein zu mehreren Performances und Lesungen ein. 
WO: Neuer Aachener Kunstverein, Passstraße 29, 52070 Aachen.

Wenn ihr mehr über den Neuen Aachener Kunstverein erfahren wollt, findet ihr hier eine Review von Anna Meinecke zur Anfang des Jahres vom NAK ausgerichteten Ausstellung der Frankfurter Hauptschule.