Eine Leerstelle ist keine Leere
Sydney Shen bei Sophie Tappeiner

3. Juni 2019 • Text von

Der amerikanischen Künstlerin Sydney Shen gelingt es mit der Ausstellung „Every Good Boy Does Fine“ die Abgründe gesellschaftlicher Reglementierung zu vergegenständlichen. Den stärksten Eindruck hinterlässt allerdings das, was wir nicht sehen oder beurteilen können.

Sydney Shen: Every Good Boy Does Fine, installation view, Sophie Tappeiner, 2019. Courtesy the artist and Sophie Tappeiner. Copyright: kunst-dokumentation.com.

In den lichtdurchfluteten Galerieräumen sind neun hüfthohe Sockel verteilt, ein gleichzeitig monumentales, wie kommerzielles Arrangement. Auf den glatten, scharfkantigen Quadern, teilweise aus klassisch-weißem Sperrholz, teilweise aus durchsichtigem, mit Maiskörnern gefülltem Glas, stehen kleine Holzstühle: Miniaturen auf den ersten Blick, auf den Zweiten als sogenannte Toilettentrainer für Kinder identifizierbar. Nicht quietschende Farben, sondern poliertes Holz, Armlehnen, kleine Füßchen und eine Retro-Ästhetik charakterisieren die Objekte. Es sind Antiquitäten, aus den Tiefen des Internets oder den Weiten der Vereinigten Staaten zusammengesammelt. Das Bild eines „Antiques“-Shops an einem wenig befahrenen Highway drängt sich auf, als ein Ort, an dem die Vergangenheit zum Fetisch wird, an dem bewahrt wird, um sich nicht der Unübersichtlichkeit des Jetzt aussetzen zu müssen. Auf den Sockeln platziert, erscheinen die Toilettentrainer erschreckend brutal und gar nicht niedlich. Die Sterilität der Präsentation hebt sie als Alltagsgegenstände nicht nur in die Sphäre der Kunst, sondern exponiert und neutralisiert auch eigentlich intime Objekte. Als Betrachter*in blicken wir in Augenhöhe auf etwas, einen angedeuteten Jemanden, während wir uns als Mensch zu dem Kind hinunter beugen würden. Auf jedem Holzstühlchen ist eine kleine Plakette angebracht, mit einem in das schimmernde Gold gravierten Schriftzug: „To be or not to be?“, „Meat-shaped Stone“ oder „Die_Frau_mit_dem _Raben“. In welcher Beziehung stehen diese sprachlichen Augenblicke zu der sozio-kulturellen Schwerfälligkeit der Readymades, auf die sie montiert sind?

Die Wenigsten werden sich daran erinnern, wie sie gelernt haben auf die Toilette zu gehen. Vielleicht gibt es ein Foto, mit dem die eigenen Eltern diesen zeit- und nervenaufreibenden Lernprozess dokumentieren wollten, aber das liegt irgendwo auf dem Speicher. Die Künstlerin Sydney Shen inszeniert die „training potties“ als unheimliche Vorrichtungen, die ohne den darin angedeuteten kindlichen Körper zu einem Hohlraum werden, in den der kleine Mensch hineingezwungen wird. Das zu trainierende Kind wird nicht mit Gurten festgeschnallt, sondern erlernt durch Konventionen und Normen festgeschriebene Handlungen. Shen konfrontiert die Betrachter*innen mit denjenigen Verhaltensmustern und Formen der Unterwerfung des eigenen Selbst, die in die Unsichtbarkeit unseres eigenen Unbewusstseins eingeschrieben sind. Doch es ist nicht nur die gesellschaftliche Reglementierung, die in den Kindertoilettenaufsitzen deutlich wird, sondern auch eine psychoanalytische Grenzziehung, die den eigenen Subjektstatus betrifft. Das in der Kloschüssel liegende Abjekt stellt die Unterscheidung von außerhalb und innerhalb des eigenen Körpers kontinuierlich in Frage. Angesichts von etwas, das gerade noch „wir“ waren und jetzt „es“ ist, empfinden wir Ekel und Angst, machen als Abjekt gefügig, was unsere eigene, erhabene Subjekthaftigkeit bedroht. Diese Abgrenzung erlernen Kinder auf den kleinen Holzstühlchen, lustig und niedlich wird zu schamvoll und eklig. Triebe werden zu Regeln und das Kind unterwirft sich der Welt der Erwachsenen, ihren Vorschriften und Verboten, alles hineingezwungen in diese runde Leerstelle.

Sydney Shen: Hotel Echo Romeo Oscar, 2019. Rabbit restrainer, wood, brass, MDF, 114 x 30,5 x 48 cm. Courtesy the artist and Sophie Tappeiner. Copyright: kunst-dokumentation.com.

Zwei Objekte unterscheiden sich von den Toilettentrainern und sind gleichzeitig die Kehrseite derselben Medaille. Einerseits eine Vorrichtung aus harten, gelblich-weißen Plastik und kaltem Metall, die zur Arretierung von Hasen und anderen kleineren Tieren dient, wenn sie getötet und gehäutet werden. Andererseits die aus dem Kunststoff Polyurethan geformte untere Hälfte eines Bären. Polyurethan wird verwendet um Formen zu modellieren, auf welche die abgezogene Haut von Tieren gezogen wird, wenn diese ausgestopft werden. Wiederum definieren skulptural angedeutete Leerstellen die Essenz der Werke: Das Tier, dessen Tod wir nicht sehen, und die Haut des Bären, der sich uns noch nicht als ausgestopfte Entität darbietet. Die beiden Arbeiten verweisen auf den Vorgang der Objektwerdung, in Abgrenzung von der in den Toilettentrainern vergegenständlichten Subjektwerdung. Es sind alltägliche Gegenstände, mithilfe derer Tiere den Regeln des Menschen unterworfen werden, der über Tod, ebenso wie Verwesung entscheidet. Wenn auf den hölzernen Klobrillen das unbewusste, unkontrollierte Verhalten eines Kindes zur Gesellschaftsfähigkeit des Menschen normiert wird, wird in dem „rabbit restrainer“ tierisches Leben durch ein der Kontrolle und Bedürfnissen des Menschen untergeordnetes Objekt ersetzt. Sydney Shen macht zwei Perspektiven auf Vorgänge des Gefügigmachens sichtbar, die sich als Leerstellen zwischen unterschiedlichen logischen Systemen öffnen. Mit einer subtilen künstlerischen Formensprache deutet sie einen Raum an, in dem weder die einen, noch die anderen Regeln gelten und der deshalb von brutalster Gewalt gekennzeichnet ist.

Sydney Shen: Pencil drawings of rose buds, 2019. Wood, metal, fabric, brass, glass, corn, 127 x 30,5 x 43 cm. Courtesy the artist and Sophie Tappeiner. Copyright: kunst-dokumentation.com.

Die auf den Objekten angebrachten Plaketten drücken zunächst eben dies aus: Die Bürokratisierung und Reglementierung des Lebens, jeder Spezies und aller Lebensabschnitte. Indem sie sich jedoch von ihrer deskriptiven oder titulierenden Funktion entledigen, mitunter sogar Verständnis verweigern, beschreiben sie eine geradezu utopische Kategorie des Nonsens. Es sind sprachliche Versatzstücke aus verschiedensten Zusammenhängen: „Meat-Shaped Stone“ ist ein kunsthandwerkliches Objekt, einem Stück Fleisch zum Verwechseln ähnlichsehender Edelstein, ausgestellt im Palastmuseum in Taiwan; „Die_Frau_mit_dem_Raben_am_Abgrund“ ein Gemälde von Casper David Friedrich, „5.000 Years of Civilisation reborn“ eine populäre Tanzrevue über die chinesische Geschichte, die seit 2006 in den USA tourt, vor allem aufgrund einer intensiven Marketingkampagne bekannt ist und deshalb zum Meme wurde; „Hotel Echo Rome Oscar“ das entsprechend dem NATO-Regelwerk buchstabierte Wort „Hero“. Die Titel enthalten Spuren von Sinnzusammenhängen, die sich in diesem Kontext jedoch ins Nichts auflösen, in den Nonsens, in dem sich zwar Verknüpfungen herstellen lassen, die im Ende jedoch wiederum zu Nichts führen. Nonsens wird hier zum Gegenteil von Reglementierung, denn in der Sinnlosigkeit kann es keine Richtigkeit geben. Während die Leerstellen der ausgestellten Objekte ein materielles und symbolisches Zwischen-Etwas-Anderem beschreiben, verweisen die sprachlichen Zeichen auf die Leere als Ort ohne Logik. Es überrascht nicht, dass das chinesische Äquivalent zum Englischen „void“, der Deutschen „Leere“, sowohl Leere als auch Fiktion bedeutet.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis zum 06. Juli 2019 und ist jeweils von Mittwoch bis Freitag von 12 bis 18 Uhr, sowie am Samstag von 11 bis 15 Uhr geöffnet.
WO: Galerie Sophie Tappeiner, An Der Hülben 3, 1010 Wien.

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