Vom Eingefädeltwerden
"A Stitch In Time", Niclas Riepshoff bei 14a

9. Dezember 2021 • Text von

Niclas Riepshoff interessiert sich für den Übergang von Liebe zu Gewalt. In seiner Solo Show „A Stitch In Time“ bei 14a in Hamburg verfolgt der Künstler seinen eigenen pädagogischen Faden zurück. Manchmal piekst die pädagogische Nadel, manchmal führt sie zusammen, was zusammengehört. Er portraitiert seine Einfädler*innen auf gegossenen Alu-Einfädlern und näht die Patchwork-Familie schlechthin.

Installationsansicht, Niclas Riepshoff, A Stitch in Time, Aluminium Guss, Einfädler
Niclas Riepshoff: “A Stitch in Time”, 25/11/2021 – 22/01/2022, Installation View. Photo: Heinrich Holtgreve.

Der Gegenstand, der vielfach an den Galeriewänden hängt, kommt einem bekannt vor, aber wie heißt er denn eigentlich? Er glänzt silbrig, besteht aus einer kreisrunden Fläche, die gut zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten werden kann, anschließend verläuft er nach unten schmal zusammen, wo er letztendlich in einer Drahtöse abschließt. Diese Öse wird durch das Nadelöhr geführt, um dann den Faden durch die Öse und die Öse mit Faden durch das Nadelöhr zu fädeln. Nach diesen Fähigkeiten ist er benannt, der Einfädler. Er ist eines der ersten Produkte, die im viktorianischen Zeitalter massenangefertigt wurden. Aus diesem Grund ist auf der runden Fläche bis heute ein winziges Portrait der ehemaligen britischen Queen Victoria eingeprägt.

Installationsansicht, Niclas Riepshoff, A Stitch in Time, Aluminium Guss, Einfädler
Niclas Riepshoff: “A Stitch in Time”, 25/11/2021 – 22/01/2022, Installation View. Photo: Heinrich Holtgreve.

Riepshoff fragte sich in Vorbereitung dieser Ausstellung, wer hat mich geprägt? Wer hat meinen Lebensweg mitregiert? Wer hat mich eingefädelt? Mit seiner Serie „Threaders“ gießt er aus Aluminium und der Erinnerung sein ganz individuelles pädagogisches Kollegium in Einfädlerform ab. Queen Victoria wird vertreten von Kindergarten-Erzieher*innen und Uni-Professor*innen. Wo Konturen verschwimmen ist die Erinnerung nicht mehr ganz so ausgeprägt. Diese fünf Personen kommen einem ein bisschen bekannt vor, sodass Besucher*innen automatisch beginnen in ihrem eigenen Nähkästchen zu graben.

Niclas Riepshoff, A Stitch in Time, Aluminium Guss, Einfädler
Niclas Riepshoff: “Threader (IV // V)”, 2021, Cast aluminium, 139 x 40 x 1,5 cm // 139 x 39 x 1,5 cm. Photo: Heinrich Holtgreve.

Riepshoffs hat seinen Einfädler*innen ein Näh-Accessoire in die Hand gedrückt. Der Herr mit dem nach hinten gekämmtem Haar schielt irritiert, fast verängstigt auf die Nadel, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hält. Die strenge Dame, der beinahe die schmale Brille von der Nasenspitze rutscht, trägt ihr Nadelkissen am Handgelenk spazieren, wie andere eine zu kleine Handtasche.

Ganz lieb und harmlos kommt die Frau auf „Threader (III)“ daher. Ihre Ponyfrisur scheint zu wippen, ihr Gesicht ist leicht verbeult von der Erinnerung. In ihrem erhobenen Zeigefinger steckt eine Nadel. Es sieht schmerzhaft aus, aber steckt die Nadel nur unter der ersten Hautschicht, ist es das nicht. Die Nadel erinnert an ein kindliches Spiel, an den Spaß, den es machte Eltern oder Lehrende mit der Nadel im Finger zu schocken. Womöglich hat sich damals auch der kleine Niclas diesen stichelnden Spaß erlaubt.

Niclas Riepshoff, A Stitch in Time, Aluminium Guss, Einfädler
Niclas Riepshoff: “Threader (III // I)”, 2021, Cast aluminium, 144 x 40 x 1,5 cm // 80 x 50,2 x 1,5 cm. Photo: Heinrich Holtgreve.

Schön ist auch der Faden im Mund der Frau mit Brille. Fast lasziv, wie sie ihn zwischen den schmalen aufeinandergepressten Lippen hindurchzieht. Ihr Einfädler ist herzförmigen und ein Alu-Stiel, der hinter dem Draht liegt, deutet eine andere Funktionsweise an. Die abweichende Form, der andere Mechanismus wirft Fragen auf: War die Dargestellte eine besonders herzliche Person entlang von Riepshoffs pädagogischen Lebens-Faden? Hatte sie herausstechende Lehrmethoden? Diese Fragen sollen bewusst offene bleiben.

Riepshoff selbst beschreibt diese Näh-Attribute im Gespräch als „brutale Minimomente“. Er möchte in ihnen das aggressive Potenzial von Erziehung thematisieren. Er findet es spannend, dass Erziehung früher viel mehr dafürgestanden habe, das Kind zu formen oder „zuzurichten“, wohingegen es heute viel mehr den Anschein habe, dass „Raum zur eigenen Entfaltung geben“ im Zentrum der Erziehung stehe. Aber was ist nun der fürsorglichere Weg? Was ist Pädagogik? Wo hört elterliches Einfädeln auf und ab wann wird Kindern etwas angenäht, das ihnen eher schadet?

A Stitch in Time, Niclas Riepshoff, Patchwork, Skulptur, Details
Niclas Riepshoff: “A Stitch in Time”, 2021, Cardboard, fabric, polyester fleece, wax, cast aluminium, 139 x 118 x 100 cm. Photo: Heinrich Holtgreve.

Riepshoffs skulpturalen Protagonist*innen agieren zentral im weißen Ausstellungsraum. Es scheint so, als hätten die Einfädler-Portraits einen Stuhlkreis um sie herum gebildet. In der namensgebenden Skulptur „A Stitch In Time“ filtert Riepshoff einen absurd schmalen Grad, auf dem Erziehung im familiären Kontext wandeln kann, heraus. Eine Großmutter, die ihrem Enkelkind ein Loch nahe der Gesäßtasche flickt und es sich dafür über das Knie gelegt hat. Die übergroße Nadel hält sie in der erhobenen geballten Faust. Eine bedrohliche Geste, aber gleichzeitig auch ein fürsorglicher Akt. Die Situation ist schwer einzuschätzen, sie könnte jederzeit ins Liebevolle oder ins Gewaltsame kippen.

A Stitch in Time, Niclas Riepshoff, Patchwork, Skulptur, Hand Details
Niclas Riepshoff: “A Stitch in Time”, 2021, Cardboard, fabric, polyester fleece, wax, cast aluminium, 139 x 118 x 100 cm, Details. Photo: Heinrich Holtgreve.

Die gesamte Skulptur ist aus unzähligen Stoffflicken zusammengenäht. Riepshoff wollte für diese Arbeit den Begriff „Patchwork Familie“ wortwörtlich verstehen. Ergeben hat sich eine optisch, wie auch inhaltlich wackelige Situation. Die Flicken ergeben ein verpixeltes Bild, aus der Ferne erscheint die Skulptur zweidimensional. Erst beim näheren Betrachten wird sie körperhaft. Und die Frage ist auch, wer hat hier wen genäht? Hat die nähende Großmutter möglicherweise auch sich selbst und das gesamte Gefüge geflickt? Halten sie und ihre Nadel alles beisammen?

In Wirklichkeit waren es Riepshoffs und viele weitere helfende Hände, die dieses Werk in einem gemeinschaftlichen Projekt innerhalb von zwei Wochen wahnhaft, aber auch gesellig, genäht haben. Der Künstler fühlte sich während dieses Prozesses an die Tradition des „Quiltings“ erinnert, in der ein ganzes Dorf Stoffreste zusammenträgt, um gemeinsam einen Quilt, eine Steppdecke, zu nähen. Er würdigt in dieser Arbeit und der gesamten Show gleichermaßen das Näh-Handwerk und das Gemeinschaftsgefühl, nur war es in diesem Fall nicht die Patchwork-Decke, sondern die Patchwork-Oma, die dabei herausgekommen ist.

Installationsansicht, Niclas Riepshoff, A Stitch in Time, Aluminium Guss, Einfädler, Patchwork, Skulptur, Blick von außen
Niclas Riepshoff: “A Stitch in Time”, 25/11/2021 – 22/01/2022, Installation View. Photo: Heinrich Holtgreve.

Riepshoff gelingt es bei 14a persönlich zu werden, ohne aus dem Nähkästchen zu plaudern. Seine ganz persönlichen Geschichten, sein Werdegang werden sichtbar aber diskret thematisiert. Identitäten bleiben verdeckt, was es ihm ermöglicht, das System zu hinterfragen, das ihn gebildet hat. Er reflektiert die Freiheiten des Aufwachsens genauso kritisch, wie seine Schranken.

Und Besucher*innen fragen sich womöglich auch, was aus ihnen geworden wäre, hätten sie einer der lehrenden oder erziehenden Personen auf ihrem Weg stärker nachgeeifert. Lag manchmal auch in der Freiheit das Problem? An welcher Stelle wäre mehr Strenge hilfreich gewesen? Mit der Ausstellung “A Stitch in Time” von Niclas Riepshoff wird der Blick zurück angeregt, in die eigene wie fremde und nahe wie weit zurückliegende Vergangenheit.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Samstag, den 22. Januar.
WO: 14a, Poolstraße 34, 20355 Hamburg.

Vielen Dank an 14a für die Unterstützung bei den Reisekosten.

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