Auf den Spuren der Familiengeschichte
Ian Waelder über seine Ausstellung bei L21

21. März 2021 • Text von

In seiner Einzelausstellung bei L21 im spanischen Son Castelló widmet sich Ian Waelder der Vergangenheit seiner Familie. Die Tonbandaufnahme einer Jazz-Improvisation seines Großvaters zog ihn tief in die Recherche der Familiengeschichte mit jüdischen Wurzeln in Deutschland. Mit uns hat er über die Zusammenarbeit mit seinem Vater und die Vinylreproduktion der Aufnahme seines Großvaters gesprochen.

gallerytalk.net: Lass uns zuerst über das Projekt sprechen, das zu Deiner aktuellen Ausstellung „¿Por qué no son todos así, como yo debiera ser?“ bei L21 auf Mallorca geführt hat. Wann hast Du angefangen, daran zu arbeiten? Denn es scheint so, als wäre das Erforschen der Geschichte Deines Großvaters und Deiner Familie ein langer Prozess gewesen.
Ian Waelder: Die Planung der Ausstellung begann mit einem Tonstück meines Großvaters, Federico Waelder (geboren als Friedrich Wälder). Aber ich würde sagen, der ganze Prozess begann mehr oder weniger, als ich 2017 von Barcelona nach Frankfurt gezogen bin – vor allem als Suche nach einem Gefühl der Zugehörigkeit. Ich habe die US-amerikanische Staatsbürgerschaft von meiner Mutter, bin aber in Madrid geboren und in Spanien aufgewachsen. Mein Vater stammt aus Chile. Dieses Gefühl von nationaler Identität hatte ich nie und sehe es eher als eine Art Fiktion.

Was hat sich verändert, als Du nach Deutschland gezogen bist?
Als ich nach Frankfurt kam, fühlte es sich für mich präsenter an, väterlicherseits eine jüdische Familie väterlicherseits zu haben, die im Holocaust ermordet wurde. Es war schwierig mit dem Land eine Verbindung aufzubauen, obwohl ich mich in gewisser Weise mit ihm verbunden fühlte. Es hat etwas gefehlt, und ich glaube, das war der Zeitpunkt, an dem ich anfing, mich mit der Recherche zu beschäftigen. Aber nicht als Künstler oder zumindest nicht mit einer künstlerischen Absicht, sondern nur für mich selbst, um die Vergangenheit besser zu verstehen und mit ihr in Kontakt zu sein.

Porträt von Ian Waelder in seinem Atelier in Frankfurt. Foto: Nadine Koupaei.

Hast Du mit Deiner Familie viel über die Geschichte Deines Großvaters gesprochen? Oder allgemein über die Vergangenheit Deiner Familie?
Mein Vater hat mir manches erzählt, aber er ist der Typ Mensch, dem man die richtigen Fragen stellen muss. Ich meine das liebenswert: Er macht das nicht, um etwas zu verbergen. Er gibt Dingen vielleicht nicht die gleiche Bedeutung, die sie für mich haben könnten. Aus dem Nichts erzählte er mir zum Beispiel von der Kassette mit einer Klavierimprovisation meines Großvaters. Trotzdem fühle ich mich wohl, Fragen zu stellen und das Puzzle der Vergangenheit zu formen, weil ich das Gefühl habe, dass es ihm auch hilft, etwas über unsere Geschichte zu lernen. Das ist etwas Andauerndes, denn das Projekt endet nicht mit dieser Ausstellung. Es hat mehrere Kapitel und ich möchte es weiterentwickeln, weil es noch so viel mehr gibt, was ich aufarbeiten muss.

Und konntest Du das Puzzle formen?
Ja, aber erst kannte nur die Grundgeschichte, nämlich dass mein Großvater Jude war, und er war Jazzmusiker. Er ist der einzige aus der Familie, der aus dem Konzentrationslager fliehen konnte und dann nach Chile ging. Der Rest der Familie wurde nach Welzheim, Auschwitz und Riga deportiert. Diese Kassette hat sozusagen einen Prozess angestoßen und mich motiviert, mich gänzlich auf die Recherche zu konzentrieren, die ich bereits seit meiner Ankunft in Frankfurt begonnen hatte.

Ausstellungsansicht, Ian Waelder, „¿Por qué no son todos así, como yo debiera ser?“, L21 Gallery, Mallorca. Copyright und Courtesy: der Künstler und L21 Gallery, Mallorca.

Wie bist Du an weitere Informationen gekommen?
Die meisten Informationen habe ich von dem Historiker Wolfgang Kress bekommen. Ihm verdanken wir sehr viel, denn er war derjenige, der sich mit mir in Verbindung gesetzt hat, um uns von den Stolpersteinen meiner Urgroßeltern in Stuttgart und seiner Recherche zu erzählen. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt von ihrer Existenz erfuhr. Das war erst 2012 und das hat mich sehr beschäftigt. Ich habe mindestens ein Jahr damit verbracht, Anträge bei Archiven zum Holocaust zu stellen, um Informationen über meine Familie zu bekommen.

Das klingt, als wäre der ganze Prozess emotional intensiv gewesen. Mir ist aufgefallen, dass Du dich in der Ausstellung auf viele Details der Recherche beziehst. Ich frage mich, wie die Standbilder aus Leni Riefenstahls Olympia-Dokumentation von 1938 damit zusammenhängen?
Das ist das Ergebnis eines irrwitzigen Zufalls, den ich aus den Aufzeichnungen von Wolfgang Kress herausgefunden habe. Mein Großvater musste damals das Familienauto, einen Opel Olympia, verkaufen. Es ist irgendwie symbolisch, dass ich das genaue Modell weiß. Es war nicht nur irgendein Auto, es war der Opel Olympia. Ich recherchierte weiter über dieses Modell und war überwältigt von all den Türen, die sich dadurch öffneten. Das Auto erinnerte mich an Bilder meines Vaters, auf denen man meinen Großvater als bastelnden Autofan sieht. Die Offensichtlichkeit der haptischen Arbeit hat meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und das wollte ich ebenfalls in der Ausstellung würdigen.

Ausstellungsansicht, Ian Waelder, „¿Por qué no son todos así, como yo debiera ser?“, L21 Gallery, Mallorca. Copyright und Courtesy: der Künstler und L21 Gallery, Mallorca.

Der Opel Olympia ist Dir ins Auge gesprungen und Du hast darin ein Symbol gesehen, das Dich dann zu den Olympischen Spielen 1936 geführt hat?
Ja, ich habe einige wegweisende Informationen über das Auto herausgefunden, zum Beispiel, dass Opel, die zu General Motors gehören, einer der Sponsoren des NS-Regimes war – nicht zuletzt als Unterstützer des Antisemitismus. Außerdem war der Opel Olympia das erste Auto, das mit der Monocoque-Technik in Serie produziert wurde. Das Symbolischste, was mich zu Riefenstahls Propagandafilm geführt hat, ist der Titel des Modells: Es war eine Hommage an die Olympischen Spiele des NS-Regimes. Das Auto wurde 1935 vorgestellt und die Olympischen Spiele fanden 1936 statt. Es war eine Art Wegweiser zu diesem Ereignis.

Und dann?
Das war mein Ausgangspunkt für eine Art Metapher für etwas, das zur gleichen Zeit stattfand, als mein Großvater und seine Familie unter all den antisemitischen Gesetzen litten. Er wurde von der SS in der Kristallnacht inhaftiert und das war 1938: im selben Jahr, als der Olympia-Film von Leni Riefenstahl Premiere hatte. Für mich ist es sehr bezeichnend, wie diese Dinge zusammenhängen. Wie das NS-Regime dieses Ereignis für Propagandazwecke nutzte, aber diese lächerlichen Fassade bereits zu bröckeln begann. Dies wird durch die gewählten Ausschnitte der Standbilder deutlich, in denen man um den Sieg kämpfende Athlet*innen im Moment der Niederlage sieht. Darüber stehen durch die Ölfarbe speckig scheinenden Statements, die Auszüge aus Beschreibungen des Opel Olympia sind. In diesem neuen Kontext stehen die Werke der Ideologie von Schönheit und Perfektion, die Riefenstahl zu Repräsentationszwecken des NS-Regimes eingefangen hat, ironisch gegenüber.

Ausstellungsansicht, Ian Waelder, „¿Por qué no son todos así, como yo debiera ser?“, L21 Gallery, Mallorca. Copyright und Courtesy: der Künstler und L21 Gallery, Mallorca.

Es gibt eine Menge Verbindungen und Du schaffst sie auch zwischen den Kunstwerken in der Ausstellung. Reflektierst Du durch die Verwendung der Filmstills und des Opel Olympias über diese parallelen Narrative ?
Die Ausstellung ist wirklich narrativ. Ich war vorsichtig, mich mit dem Holocaust-Trauma in Verbindung zu bringen, denn das wollte ich nicht explizit verwenden, da ich mich nicht als Opfer sehe. Was ich allerdings tun konnte, war selbst zum Erzähler zu werden und eine Geschichte aus einem persönlichen Narrativ zu berichten. Wie ich bereits erwähnt habe, interessierte mich auch die Haptik der Hände, denn in all den Recherchen war das sehr präsent, da mein Großvater Mechaniker und Pianist war. Mein Vater ist Bildhauer, der auch mit seinen Händen arbeitet und Ton ist ein Material, das sehr haptisch ist.

Und jetzt arbeitest Du wiederum viel mit Sound in deiner Praxis und hast mit Deinem Vater für “The Car Of Our Time (Grandpa’s Olympia)” (2021) bildhauerisch zusammengearbeitet.
Genau. Das begann mit der Idee, den Opel Olympia mit meinem Vater nachzubilden. Wir haben also eine Arbeit zusammen gemacht und es war ziemlich faszinierend, weil er noch aufgeregter war als ich. Er schlug Materialien vor und wir diskutierten viel darüber, wie wir uns ihnen künstlerisch annähern können. Es fühlte sich wie ein heilsamer Prozess an und war auch ein schöner Grund, um Zeit miteinander zu haben. Wir verbrachten zwei Wochen Tag für Tag damit, dieses Auto in Ton zu formen. Im nächsten Monat schufen wir drei Skulpturen für die Ausstellung, die das Auto in verschiedenen Stadien zeigen und auf Sockeln in Schulterhöhe meines Vaters platziert wurden.

Ausstellungsansicht, Ian Waelder, „¿Por qué no son todos así, como yo debiera ser?“, L21 Gallery, Mallorca. Copyright und Courtesy: der Künstler und L21 Gallery, Mallorca.

Das ist eine schöne Zusammenarbeit und eine Möglichkeit, sich mit der Geschichte zu verbinden und das Ergebnis dann in die Ausstellung einzubeziehen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich alleine nicht mehr mit dem Thema umgehen konnte. Ich musste meinen Vater teilhaben lassen. Außerdem beschäftige ich mich mit der Geschichte wiederum seines Vaters, den ich nie kennengelernt habe. Ich hatte das Bedürfnis, ihn mit einzubeziehen. Das Projekt hat viel mit einer Suche zu tun, aber auch mit dem Erbe und der Genealogie, denn mein Großvater taucht in der Ausstellung als Pianist auf. Wie gesagt, die Ausstellung hat mit dem Klavierstück begonnen.

Das ist also das Klangstück, von dem du am Anfang gesprochen hast?
Ja, es war das erste Mal, dass ich die Stimme und die Musik meines Großvaters hören konnte. Ich wusste von ihm als Pianist und seinem komischen Charakter, und ich habe in Artikeln über ihn gelesen, als ich recherchierte, aber ich habe nie etwas gehört. Dann habe ich ein Jahr lang seine Klavierimprovisationen im Radio X in Frankfurt bei TOWN gespielt: der Radioshow von einigen Studierenden der Städelschule. Das war der erste Akt, seine Musik wieder nach Deutschland zu bringen. Und für die Ausstellung habe ich beschlossen, dass ich auch mit ihm eine Kollaboration machen werden, so wie ich es mit meinem Vater gemacht habe. Daraus entstand eine Vinylplatte.

Ian Waelder und Juan Waelder in ihrem Atelier in Mallorca. Copyright und Courtesy: der Künstler.

Wie hast Du das gemacht?
Ich spiele ganz furchtbar Schlagzeug, aber meine Idee war trotzdem, seiner Improvisation zu folgen, aber das hat nicht geklappt. Ich wollte trotzdem mehr daraus machen, als nur das Originalband auf ein Vinylformat zu übertragen. Ich habe mir also weiter überlegt wie ich an der Platte mitwirken und etwas Neues schaffen konnte, denn es machte für mich Sinn auch Teil davon zu sein. Ich habe schlussendlich ein Soundstück von 2018 als Percussion-Begleitung verwendet.

Was ist das für ein Soundstück?
Es besteht aus einer Soundschleife von einer Aufnahme aus einer Box auf den Boden fallender Schuhe. Aus dem zufälligen Percussion-Rhythmus habe ich ein Stück gemacht, das ich einfach buchstäblich über die Klavieraufnahme meines Großvaters gelegt habe. Es fühlte sich wirklich wie eine Begleitung der Rhythmen an, die er spielte. Das ist ein Zufall, denn es wirkt mühelos und trotzdem sehr schön.

Ausstellungsansicht, Ian Waelder, „¿Por qué no son todos así, como yo debiera ser?“, L21 Gallery, Mallorca. Copyright und Courtesy: der Künstler und L21 Gallery, Mallorca.

Ist noch etwas anderes auf der Platte zu hören, außer das entstandene Duett?
Es gibt noch die andere Seite der Schallplatte: Es ist eine humorvolle Rede auf Spanisch, die mein Großvater gehalten hat, als das Model Cecilia Bolocco als Vertreterin Chiles den Titel Miss Universe gewann. Sie ist überraschenderweise aus einem veralteten, männlich beschützenden Standpunkt feministisch, aber mit guten Absichten. Auf der anderen Seite spricht er auch Ideen von Schönheit und nationaler Identität an. Wenn man das während dem Ausstellungsbesuch hört und all diese Standbilder aus dem Propagandafilm von Riefenstahl sieht, verändert das in gewisser Weise die Bedeutung. Das ist auch ziemlich ironisch. Andererseits schafft es eine Verbindung zwischen dem Ausgangspunkt der Geschichte, nämlich seiner Flucht aus Deutschland, und dieser Aufnahme während den letzten Jahren des Militärregimes von Augusto Pinochet in Chile. Ich habe mich immer gewundert, wie er dem Faschismus in Europa entkommen konnte und sein Leben dann unter einem anderen faschistischen Regime endete.

Die Vinyl kann in der Ausstellung gespielt werden?
Ja, die Besucher*innen können sie abspielen. Ich habe mich entschieden, den Plattenspieler im letzten Raum zu installieren, sozusagen als letzten Gegenstand, den man aktiviert. Wenn man am Ende die Platte abspielt, verändert sich die ganze Ausstellung durch die Ebene, die der Sound hinzufügt. Das entspricht auch meinem Wunsch, dass es diesen Moment der Intimität gibt, wenn die Platte in einem privaten Zuhause gespielt wird, sobald sie in Deutschland verkauft wird. Wie das Klavierstück in einen Ort eindringt, von dem mein Großvater nie gedacht hätte, dass seine Musik ihn erreichen würde. Die Schallplatte wird von einer Publikation mit Beiträgen von verschiedenen Mitwirkenden begleitet, sodass sie eine eigenständige Form bekommt. Ich habe für die Veröffentlichung ein fiktives Plattenlabel mit dem Namen Heutigen Records gegründet. Der Titel stammt aus einem der Gemälde aus der Ausstellung. Mein Wunsch ist, dass dieses Plattenlabel in der Zukunft richtig existieren kann und Werke veröffentlicht, die ähnliche Geschichten wie die meines Großvaters haben.

Ausstellungsansicht, Ian Waelder, „¿Por qué no son todos así, como yo debiera ser?“, L21 Gallery, Mallorca. Copyright und Courtesy: der Künstler und L21 Gallery, Mallorca.

Das ist interessant, denn ich denke über Deine Praxis als Künstler im Allgemeinen nach und ich habe das Gefühl, dass Reflexionen über Spuren eine Rolle spielen. Ich habe ein Zitat im Kopf, das Du als Statement verwendest: “The noise, the traces and marks are the results of an activity that did not necessarily expect to produce them.” Das ist eine schöne Verbindung zu Deinem aktuellen Projekt, denn es geht viel darum, der Geschichte nachzuspüren und in gewisser Weise zu erfahren, was davon übrig geblieben ist.
Ich hatte diesen Satz nicht im Kopf, als ich das Projekt gemacht habe, aber jetzt, wo Du es sagst, ist er total zutreffend. Ich habe mich vor Jahren entschieden, ihn als Statement zu verwenden, weil ich immer wieder mit Erinnerungen, Spuren und Gesten gearbeitet haben, die etwas hervorbringen, aber nicht die Absicht dazu hatten. So stieß ich auf diesen Satz und er passt wirklich zu meiner Praxis und wie ich die Dinge sehe. Ich kann mir vorstellen, dass mein Großvater nie gedacht hätte, dass diese Aufnahme, die er beim Klavierspielen gemacht hat, als Schallplatte existiert und über ein Jahr in Deutschland bei Radio X gespielt werden würde. Ich schätze, er hätte nie erwartet, dass seine Musik und seine Geschichte auf diese Art und Weise geteilt wird. Oder vielleicht doch. Was weiß ich schon!

Mehr Informationen zum Release und Vorkauf der Edition bestehend aus einer Vinyl und einer Publikation gibt es bald auf der Website von Heutigen Records oder dem InstagramAccount des Künstlers.

Wann: Die Ausstellung läuft noch bis Freitag, den 7. Mai, 2021.
Wo: L21 Gallery, Gremi de Ferrers 25, Polígono Son Castelló, 07009 Palma de Mallorca, Islas Baleares, Spanien.

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