Im Zenit Paul Kolling im Kunstverein München
1. Februar 2024 • Text von Julia Anna Wittmann
Wie blicken wir auf die Welt? In seiner Einzelausstellung “Nadir” widmet sich Paul Kolling der unmöglichen Aufgabe, die Komplexität der Erdoberfläche auf einer zweidimensionalen Aufnahme abzubilden. Im Kunstverein München projiziert er eine gleichnamige Arbeit in Endlosschleife und beleuchtet unsere verschobene Wahrnehmung auf die Umwelt.
Ganz langsam schiebt sich das Bild voran und fließt von oben nach unten über die von der Decke bis zum Boden gespannte Leinwand. Der Hauptraum des Kunstvereins Münchens wird von einer raumfüllenden Projektion eingenommen, einem Flug über scheinbar bekannte Landschaften. Das Bild erinnert an den Blick aus dem Flugzeugfenster, kurz vor der Landung in München. Grüne Wälder, satte Wiesen und rote Dächer ziehen gemächlich an den Besucher*innen vorbei. Geradlinige Felder und Äcker reihen sich aneinander, getrennt von geschwungenen Straßen und Wegen. Das Abbild einer bayerischen Idylle?
Nicht ganz – tatsächlich ist nichts so, wie es scheint. Für seine Ausstellung “Nadir” beschäftigte sich Paul Kolling intensiv mit der Geschichte der Luftbildaufnahmen und der Hansa Luftbild GmbH. Der Blick von oben, der für uns heute so selbstverständlich erscheint, wurde erst vor knapp 100 Jahren für eine breitere Masse zugänglich. Dafür maßgeblich war die Entwicklung der sogenannten Aerophotogrammetrie, der Luftbildmessung. Mit Hilfe von sogenannten “Reihenbildnern”, die 1915 von Oskar Messter entwickelt wurden, gab es erstmals die Möglichkeit, das ganze Land aus der Vogelperspektive zu fotografieren.
Mit dieser Entwicklung eröffnete sich ein neues Bild auf die Umwelt. Im Kunstverein München legt Kolling seine Recherche mit Fotokopien aus historischem Material der Hansa Luftbild GmbH dar. Das 1934 veröffentlichte “Luftbild-Lesebuch” sowie die von 1920er bis 1944 veröffentlichten Zeitschriften “Luftbild und Luftbildmessung” dienten damals als Anleitungs- und Übungsbücher für eine breite Öffentlichkeit. Wie sieht ein Flusslauf von oben aus? Wo können die Bahngleise in der Abbildung erkannt werden? Die ursprünglich für den militärischen Gebrauch entwickelte topologische Analyse wird für einen gesellschaftlichen Lernprozess genutzt, in dem sich die Menschen erstmal neu verorten müssen.
Der Blick auf die uns bekannte zweidimensionale Weltkarte macht unsere verzerrte Wahrnehmung der Erdoberfläche deutlich. Grönland wirkt im Vergleich zu den anderen Kontinenten riesig, ist jedoch eigentlich viel kleiner als Australien und Afrika. Kolling spitzt diese verzogene Weltsicht durch geografische Informationssysteme in seiner Arbeit “Nadir” weiter zu. Dabei handelt es sich um ein durchgängiges, konstruiertes Bild, belichtet auf einen 115,88 Meter langen 35mm-Film, welcher langsam durch den Projektor geschoben wird. Komplementiert wird die Projektion von grauen Stoffbahnen, die die Wände bedecken und durch eine Verengung der Ausstellungsräume in die Architektur des Kunstvereins intervenieren.
Der erste Schein trügt und das uns scheinbar so bekannte Bild von Wäldern, Bergen und Dörfern kann so nicht existieren. Es handelt sich um eine freie Rekonstruktion eines Fluges der Hansa Luftbild basierend auf dem Luftbild-Lesebuch von 1934. Kolling orientierte sich für sein fiktives Luftbild an einigen Orten der damaligen Flugroute, die er mit Hilfe eines Algorithmus ausfindig machen konnte. Anschließend reihte der Künstler aktuelle Luftbildaufnahmen zu einer geraden, endlosen Flugbahn zusammen. Die von zwei Seiten betrachtbare Projektion schwebt ohne Orientierungspunkte losgelöst von der Realität im Raum. Es ist unklar, welcher Maßstab verwendet wurde. Es gibt keinen Hinweis auf die Himmelsrichtungen.
Die zweidimensionale Typologisierung der Welt ist ideologisch bestimmt und prägt unsere Wahrnehmung der Umwelt sowie unsere Selbstwahrnehmung. Die meditative Idylle der Projektion gaukelt den Betrachter*innen eine vertraute Aufnahme vor, gleichzeitig verweist Paul Kolling mit “Nadir” auf die militärische Geschichte der Luftbilder. Die Installation im Kunstverein München ist so ambivalent wie ihr Titel: Nadir bezeichnet den Gegenpol zum Zenit. Hoch- und Tiefpunkt, die voneinander abhängig sind, um nicht die Orientierung zu verlieren.
WANN: Die Ausstellung “Nadir” läuft noch bis zum 21. April.
WO: Kunstverein München, Galeriestraße 4, 80539 München.