Sehnsucht nach vergangener Ordnung
Cyprien Gaillard im Palais de Tokyo

23. November 2022 • Text von

Architektonischer Verfall und Erneuerung. Ruinen und Wiederaufbau. Cyprien Gaillard, französisches Wunderkind der Kunst der 2010er Jahre, zeigt diesen Herbst im Palais de Tokyo und bei Lafayette Anticipations in einer Doppelausstellung seine Vorstellung von Zeit und lässt in eine Spirale von glorifizierter Vergangenheit und dem Wunsch nach dem Erhalt vergangener Ordnungen eintauchen.

HUMPTY DUMPTY Cyprien Gaillard Palais de Tokyo Paris 2022 03
Ausstellungsansicht, Cyprien Gaillard, HUMPTY DUMPTY, Palais de Tokyo (19/10/2022 –08/01/2022) Crédit photo: Timo Ohler.

“Humpty Dumpty saß auf der Lauer. Humpty Dumpty fiel von der Mauer. Des Königs Ritter und ihre Knecht kriegten Humpty nicht wieder zurecht.” Dies sind Zeilen aus “Alice hinter den Spiegeln”, literarisches Oeuvre des britischen Schriftstellers Lewis Carroll. Humpty Dumpty, im deutschsprachigen Raum auch als “Plumsiger” bekannt, ist ein Ei auf zwei Beinen, das von einer Mauer fällt und nach mehreren Versuchen nicht mehr in seine ursprüngliche Form gebracht werden kann. Sinnbildlich steht bei Cyprien Gaillard diese Figur für Objekte, Architekturen und einen zeitlichen Zustand, der nicht mehr wiederherzustellen ist: Vergangen, ausgelöscht, in Ruinen zerfallen.

HUMPTY DUMPTY Cyprien Gaillard Palais de Tokyo Paris 2022 04
Ausstellungsansicht, Cyprien Gaillard, HUMPTY DUMPTY, Palais de Tokyo (19/10/2022 –08/01/2022) Crédit photo: Timo Ohler.; Caption: Daniel Turner, Eiffel Cable Burnish, 2022, courtesy the artist and Galerie Allen, Paris.

Protagonist der Ausstellung im Palais Tokyo, das durch seine offengelegte Architektur den Anschein eines Gebäudes macht, das sich in ständigem Wandel befindet, ist die Stadt Paris, Heimatstadt Gaillards. Im Visier stehen die Olympischen Spiele im Jahr 2024, für welche die Stadt schon jetzt ihre Monumente einrüstet, um in zwei Jahren architektonisch im Glanz zu stehen. Gaillard interessiert dabei im Besonderen, inwieweit die urbane Abnutzung der Gebäude beseitigt wird, die Spuren der Zeit ausgelöscht werden. 

Diese architektonische Auslöschung thematisiert der Künstler mittels diverser Medien – von Film, Installation und seinen melancholisch eine bessere Vergangenheit beschwörenden Polaroids, die sich durch die Hallen und das Treppenhaus des Ausstellungsgebäudes ziehen. Echte Fossilien, wie hochwertige Artefakte, beleuchtet und in Szene gesetzt, stellt der Künstler neuen Medien wie seinem für die Biennale in Venedig 2019 entstandenen Film “Ocean II Ocean” gegenüber.

HUMPTY DUMPTY Cyprien Gaillard Palais de Tokyo Paris 2022 08
Ausstellungsansicht, Cyprien Gaillard, HUMPTY DUMPTY, Palais de Tokyo (19/10/2022 –08/01/2022) Crédit photo: Timo Ohler.

Unterlegt mit jamaikanischen Dub-Beats, wird man als Betrachter regelrecht in den Film eingesogen – in die Mitte eines schwarzen Lochs, das von zirkulierendem Wasser umgeben ist. Bei Herauszoomen der Kamera wird deutlich, dass es sich hierbei um die Spülung eine der stählernen U-Bahn-Toiletten in New York handelt. Schnitt – und es folgt eine Reihe an Aufnahmen, die an U-Bahnhöfen in Moskau, Kiew und Berlin gedreht wurden und die mit Marmor bekleidete Wände und Böden zeigen. Fossilien, Ammoniten oder weitere Meeresbewohner aus geologischen Uhrzeiten zeugen von der Existenz längst erloschener Ozeane. Unwiederbringlich erloschen, genau wie Humpty nicht wiederzubeleben. 

Spirale in Marmor
Cyprien Gaillard, Ocean II Ocean, vidéo HD, couleur, sonore, 10:56 min, 2019, courtesy de l’artiste et Galerie Sprüth Magers (Berlin – Los Angeles) © Cyprien Gaillard.

Ähnlich wie der amerikanische Künstler Robert Smithson, von dem Gaillard einige frühe Zeichnungen aus Papier ausstellt, ist Gaillard fasziniert vom Begriff der Entropie. Eine physikalische Größe, welche die Verteilungsmöglichkeiten von Energie auf Bestandteile eines Systems beschreibt. Umgangssprachlich steht sie für Unordnung und wird seit jeher von Theologen wie Philosophinnen und Künstlern genutzt, um erstaunliche Gedankengebäude zu konstruieren.

So auch im Fall von Gaillard, der sich dem Begriff der Entropie bemächtigt, um auf den nicht aufzuhaltenden Verfall menschlicher Architektur hinzuweisen. Im Gespräch mit der Kuratorin Rebecca Lamarche-Vadel weist der Künstler darauf hin, dass ihn besonders die Idee der Entropiebilanz fasziniere, die die Stadt Paris momentan ziehe: “Das ist etwas, das mich schon immer interessiert hat, wie Städte versuchen, bestimmte Gebäude zu erhalten. Diese öffentliche Politik der Restaurierung ist zwangsläufig exklusiv, sie kann nicht den gesamten bebauten Raum einbeziehen.”

Eine Statue vor einem Film in dem Papageien fliegen
Ausstellungsansicht, Cyprien Gaillard, HUMPTY DUMPTY, Palais de Tokyo (19/10/2022 –08/01/2022) Crédit photo: Timo Ohler.

Die Momentaufnahme der Sedimentierung, die in Gaillards Werken im Palais Tokyo stattfindet, wird begleitet von Leihgaben von Künstlern wie Giorgio de Chirico, Käthe Kollwitz oder eben Robert Smithson, die sich der Künstler zu eigen macht, um das Verschwinden sowie die Sehnsucht nach dem Aufleben alter Ordnung zu untermalen.

Ansicht einer Muschel hinter Glas
Ausstellungsansicht, Cyprien Gaillard, HUMPTY DUMPTY, Palais de Tokyo (19/10/2022 –08/01/2022) Crédit photo: Timo Ohler.

Zeit ist zyklisch. Alles kommt, geht, fließt. Fossilien und Ruinen sind Zeugen ehemaliger Existenzen und kehren doch in neuen Formen in heutiger Architektur zurück. Berührend und mit melancholischem Unterton zeichnet Gaillard im Palais de Tokyo eine Welt, an deren Beginn der Verlust steht, – ein schwarzes Loch wie in der Arbeit “Ocean II Ocean”, aus dem nichts Neues mehr zu schaffen ist – und die Illusion eines fortschreitenden Niedergangs suggeriert.

WANN: Die Ausstellung im Palais de Tokyo läuft bis einschließlich Sonntag, den 8. Januar 2023. Die Fortsetzung der Ausstellung bei Lafayette Anticipations ist ebenfalls bis einschließlich Sonntag, den 08. Januar 2023, zu besuchen.
WO: Palais de Tokyo, 13, avenue du Président Wilson, 75116 Paris, Frankreich.

Weitere Artikel aus Paris