Das Warten hat sich gelohnt
"En attendant Omar Gatlato" im Magasin CNAC in Grenoble

31. Juli 2023 • Text von

Die Ausstellung “En attendant Omar Gatlato: Épilogue” im Magasin CNAC in Grenoble zeigt Arbeiten von vierzehn Künstler*innen aus Algerien und seiner Diaspora. Die Schau erlaubt einen kondensierten Einblick in künstlerische Praxen des Landes, aber auch in seine Alltagskultur. Kuratorin und Künstler*innen begeben sich dabei auf die unaufgeregte Suche nach Gesten und Praxen des kulturellen Widerstands. (Text: Julian Volz)

SHANAN ABDO Magasin CNAC Omar Gatlato gallerytalk
En attendant Omar Gatlato : Épilogue [Waiting for Omar Gatlato: Epilogue], exhibition view at Magasin CNAC, Grenoble, 7 April – 15 October, 2023. On the left: Abdo Shanan, TV, Hands Reaching, from Diary: Exile (2012-2016), undated Sound work: Hichem Merouche, Repérages, 2022 © Magasin CNAC, Courtesy of the artists. Photo: Aurélien Mole.

Omar Gatlato vertreibt sich seine Zeit mit kleinen Gaunereien auf dem Schwarzmarkt, bei Châabi Konzerten oder auf den Zuschauerrängen der Fußballstadien der Stadt. Er ist die Hauptfigur des Films „Omar Gatlato“ von Merzak Allouache aus dem Jahr 1976. Im Jahr seines Erscheinens stellte der Streifen einen starken Bruch mit dem algerischen Kino dar, weil er sich nicht wie üblich an der ungebrochenen Glorifizierung des algerischen Befreiungskrieg beteiligte – erinnert seien Klassiker wie Giulio Pontecorvos „Die Schlacht um Algier“ von 1965 oder Mohammed Lakhdar-Haminas auf dem Filmfest von Venedig ausgezeichnete „Chronik der Jahre der Glut“ von 1975. Stattdessen wendete sich Allouache mittels seines non-konformistischen Protagonisten Omar Gatlato dem Alltagsleben der Jugend des populären Viertels Bab El-Oued in Algier zu.

„Wir haben auf Omar Gatlato gewartet. Merzak Allouache nahm die alte Mumie, zu der das algerische Kino geworden war, an die Hand und tauchte sie in ein Bad der Zärtlichkeit und der Revolte“, schrieb die algerischen Filmkritikerin und Feministin Wassyla Tamzali über die Premiere des Films. Dieser und weitere Texte zum algerischen Kino seit der Unabhängigkeit des Landes 1962 finden sich in ihrem Buch „En attendant Omar Gatlato“ zusammengefasst. Dessen Titel hat sich nun die Kuratorin der Natasha Marie Llorens für ihre Ausstellung im Magasin CNAC in Grenoble geborgt.

ZOUGGAR SOFIANE Magasin CNAC Omar Gatlato gallerytalk
Sofiane Zouggar , Ultra’s politics, 2022. Installation (detail), tryptic, mixed media, oil on canvas and paper, variable size. © Sofiane Zouggar.

„En attendant Omar Gatlato: Épilogue“ (dt. Warten auf Omar Gatlato: Epilog) umfasst Arbeiten von vierzehn Künstler*innen aus Algerien und seiner Diaspora. Kuratorin Llorens spannt darin ein Feld voller historischer und popkultureller Referenzen auf. In der Ausstellung wird die von Regisseur Allouache begonnene Suche nach der Alltagskultur in Algerien fortgesetzt und aktualisiert. An welchen Orten würde sich der Omar aus dem Jahre 2023 aufhalten? Wie würde er heute aussehen? Und welche Potentiale des Widerstands finden sich in seinen Alltagspraxen?

Eine mögliche Antwort auf Fragen wie diese bietet Sofiane Zouggar mit seiner Installation „Ultra’s politics“ an: In einem Autoreifen lodert vor einem dunklen, unbestimmten Hintergrund eine rötlich und gelblich schimmernde Flamme, weißer Rauch steigt auf. Ein Bild, wie man es aus vielen Revolten kennt. Schließlich dienen brennende Reifen als perfektes Material zum Bau von mobilen Barrikaden, mit denen etwa die Ordnungskräfte am Betreten eines bestimmten Territoriums gehindert werden sollen. Doch Zouggars brennender Reifen hat eine Besonderheit: Er scheint auf ein im Hintergrund platziertes Fußballtor zuzurollen. In seiner Acrylzeichnung montiert der in Algier tätige Künstler also die politische Geste des brennenden Reifens und die Fußballkultur in einem Bild zusammen.

ZOUGGAR SOFIANE Magasin CNAC Omar Gatlato gallerytalk 2
En attendant Omar Gatlato : Épilogue [Waiting for Omar Gatlato: Epilogue], Magasin CNAC, Grenoble, 7 April—15 October, 2023. Work on view: Sofiane Zouggar, Ultra’s politics, 2022 (installation detail) © Magasin CNAC, Courtesy of the artist. Photo: Aurélien Mole.

Bereits im arabischen Frühling von 2011 spielten die Ultraszenen in Ländern wie Tunesien oder Ägypten eine wichtige Rolle. Auch in der algerischen Protestbewegung des Hirak von 2019 bis 2020, die letztlich zum Rücktritt des seit 1999 amtierenden Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika führte, nahmen Fußballfans eine bestimmende Funktion ein.  Das hat damit zu tun, dass diese gut organisiert sind, sie ihre Anhänger*innen mobilisieren können, und dass ihre Gegenkultur und Ikonografie meist direkt den gelebten Praktiken der ärmeren Viertel der Stadt entstammt. Gerade in Ländern wie Algerien, deren Öffentlichkeit und Medien strikt kontrolliert sind, bilden Fußballstadien einen der wenigen Orte einer Gegenöffentlichkeit, in der beim Gesang frei geäußert werden kann, was ansonsten einer strikten Meinungskontrolle unterliegt.

Neben zwei weiteren Acrylzeichnungen umfasst Zouggars Installation auch ein Kippbild, ein kleinformatiges Modell einer Fußballtribühne, ein weißes Banner sowie ein Archivdokument zu sehen. Letzteres entnahm der Künstler einem Archiv der französischen Kolonialpolizei. In dem Report aus dem Dezember 1945 wird davon berichtet, dass während des Spiels einer „muslimischen“ gegen eine französische Mannschaft im Stadion Parolen für die Unabhängigkeit Algeriens skandiert wurden. Die Stadien können in dem Land also auf eine langjährige Widerstandsgeschichte zurückblicken, die sie zu so etwas wie einer algerischen Form der Agora gerinnen lassen, dem Ort, an dem bereits in der Antike politische Gemeinschaften zusammenkamen. Dies legt zumindest Zouggars Installation nahe.

Nawel Louerrad Magasin CNAC Omar Gatlato gallerytalk
En attendant Omar Gatlato : Épilogue [Waiting for Omar Gatlato: Epilogue], Magasin CNAC, Grenoble, 7 April—15 October, 2023. Works on view by Nawel Louerrad (from left to right): Sans titre, Octobre 2020 ; Sans titre, Octobre 2021 ; Sans titre, Octobre 2021. © Magasin CNAC, courtesy of the artist. Photo: Aurélien Mole.

Im Magasin CNAC sind auch Künstler*innen ausgestellt, die sich den aufgeworfenen Themen auf ganz anderen und weniger direkten Ebenen widmen. Die Ausstellung bildet den dritten und letzten Teil eines langfristig angelegten Projekts von Natasha Marie Llorens. Bereits in den vorherigen Kapiteln ist sie ähnliche Fragen angegangen, und sie bringt diese in dem Epilog nun in kondensierter Form zusammen. Dass dies so gut gelingt, dafür sorgt auch die deutlich durchscheinende Expertise der Kuratorin, die auf einer langjährigen Recherche und einer intensiven Zusammenarbeit mit der algerischen Kunstszene sowie ihrer meist im ehemaligen Kolonialland Frankreich beheimateten Diaspora beruht. So erlaubt die Ausstellung einen konzentrierten Einblick in das, was Künstler*innen in Algerien und Frankreich heute beschäftigt, und zwar als ein Portrait über mehrere Generationen hinweg.

Die Suche danach, was überhaupt eine angemessene Form für ein Portrait sein kann, treibt etwa Nawel Louerrad um. In drei unbetitelten Portraitzeichnungen auf Notizbuchpapier findet sich sowohl eine klare, in wenigen Strichen gezeichnete Silhouette eines Menschen als auch ein expressiv anmutendes Bild einer verschwommen erscheinenden Person mit Hundskopf, bei welcher der Stift immer nur kurz aufgesetzt worden zu sein scheint.

Lydia Ourahmane Yuma Burgess Magasin CNAC Omar Gatlato gallerytalk
En attendant Omar Gatlato : Épilogue [Waiting for Omar Gatlato: Epilogue], Magasin CNAC, Grenoble, 7 April—15 October, 2023. Work on view: Lydia Ourahmane & Yuma Burgess, Untitled, 2022. Commissioned and produced by Sculpture Center, New York. © Magasin CNAC, Courtesy of the artists. Photo: Aurélien Mole.

Der Fotograf Abdo Shanan hat ebenfalls eine Vorliebe für etwas verschwommene Bilder. Eine Analogfotografie zeigt eine Gruppe Schwarzer Männer aus der Froschperspektive, die sich an der Hand fassen und im Kreis tanzen. Der Titel „Men Dancing: Extract from the Diary: Exile“ lässt vermuten, dass diese wohl aus einem Land südlich der Sahara nach Algerien immigriert, sind und nun beim Tanz ihren Alltag gemeinschaftlich gestalten.

Direkt gegenüber der Fotografie hängt von der Decke eine aus mehr als dreihundert schwarzen Thermoplastplatten bestehende Skulptur von Lydia Ourahmane und Yuma Burgess. Zusammen genommen ergeben die Platten ein topographisches Relief des von Ourahmane für ihre Projekt „Tassili“ gescannten Hochplateaus Tassili n’Ajer, das sich ganz im Süden des algerischen Sahara befindet. Für das Projekt machte sich Ourahmane zusammen mit Freund*innen auf in das wenig bekannte Territorium in der Südsahara und der dort schlummernden Bildkultur, denn das Tassili ist äußerst reich an Felszeichnungen aus prähistorischen Zeiten.

Louisa Barbari Magasin CNAC Omar Gatlato gallerytalk
En attendant Omar Gatlato : Épilogue [Waiting for Omar Gatlato: Epilogue], Magasin CNAC, Grenoble, 7 April—15 October, 2023. Work on view: Louisa Babari, AUTORÉFÉRENCE, 2020. © Magasin CNAC, Courtesy of the artist. Photo: Aurélien Mole.

Diese Suche nach einer in der algerischen Geschichte schlummernden visuellen Kultur teilt Ourahmane mit den „Peintres du signe“, eine Gruppe modernistischer Maler um Mohammed Khadda aus den 1960er und 70er Jahren. Auch diese ließen sich bei ihrer Suche nach einer den historischen Praxen des Landes entstammenden Kunst von den Felszeichnungen inspirieren. Hier geht es also weniger um die Alltagskultur Algeriens, als um das Neuschöpfen der Kultur eines Landes, das während der 132 Jahre andauernden Kolonialisierung keine eigene kulturellen Ausdrücke haben durfte.

Auch Fragen der Geschlechterverhältnisse werden in der Ausstellung thematisiert. So präsentiert etwa Louisa Barbari auf einem metallenen Operationssaaltablett eine Sammlung von 56 Vulven aus Lehm. Diese lassen an eine die Kommodifizierung und Formung der weiblichen Geschlechtsteile denken.  In einer gewissen Weise konstituieren sie aber auch eine intime Frauengemeinschaft, aus der sich eine Infragestellung der Geschlechterhierarchie ergeben könnte.

The Tilawin Project Magasin CNAC Omar Gatlato gallerytalk
En attendant Omar Gatlato : Épilogue [Waiting for Omar Gatlato: Epilogue], Magasin CNAC, Grenoble, 7 April—15 October, 2023. Work on view: The Tilawin Project, 2023, video projection with 61 photographs with accompanying documentary zine. © Magasin CNAC, Courtesy of the artists. Photo: Aurélien Mole.

Eine solche eingeschworene Gemeinschaft erschuf das Tilawin Projekt bereits. Unter Anleitung von Mentor*innen unterstützt es weibliche Fotografinnen in Algerien bei der Entwicklung ihrer fotografischen und künstlerischen Praxis. In der Ausstellung zeigt das während der Projektphase entstandene Kollektiv ein sphärisches und gleichsam poetisches Video, das sich hauptsächlich aus 61 Fotografien zusammensetzt, die während der Workshops entstanden sind. Zu sehen sind dabei etwa Alltagszenen am Strand, in der Wüste, in einem Pariser Café oder auch eine Bootsfahrt übers Meer.

Während es sich bei Merzak Allouaches Omar Gatlato noch um einen männlichen Antihelden mit subproletarischer Attitüde handelte, ist Lorens‘ Omar in der Ausstellung merklich diverser geworden: Er ist weiblich, schwarz, in einer Videoartbei von Hichem Merouche zudem neurodivers. Doch gelingt es ihm auch aus dem Korsett der Zwangsheterosexulität auszubrechen? Für einen schwulen Omar finden sich in der Ausstellung wenige Anzeichen. Die ebenfalls gezeigte Arbeit „Khtobtogone“ von Sara Sadik in Videospielästhetik beendet dann auch die Suche nach einem solchen.

Sara Sadik Magasin CNAC Omar Gatlato gallerytalk
En attendant Omar Gatlato : Épilogue [Waiting for Omar Gatlato: Epilogue], Magasin CNAC, Grenoble, 7 April—15 October, 2023. Work on view: Sara Sadik, Khtobtogone, 2020-2021. Collection of Centre national des arts plastiques (cnap). © Magasin CNAC, Courtesy of the artist. Photo: Aurélien Mole.

In der Arbeit fährt der junge Held Zine in teuren Autos und Markenklamotten durch Marseille. Am Ende des Videos macht er seiner Angebeteten einen Heiratsantrag. Zine ist die Personifizierung des Anti-Omar. Während sich bei Omar Gatlato die Revolte gerade in dem Ausbruch aus den sozialen Rollenerwartungen und dem von dem Einparteienstaat vorgezeichneten Lebensentwurf ergibt, findet sich bei Saadiks Held Zine nichts als Konformität und die Erfüllung sozialer Rollenerwartungen.

Omar gestaltet seine Zeit auf der Arbeit bei der lokalen Behörde maximal unproduktiv. Er verbringt seinen Arbeitstag mit dem Rauchen von Zigaretten oder dem Lesen des Sportteils der lokalen Zeitung. Zine sieht hingegen seinen schlecht bezahlten Job als Essenslieferant, als eine Art neoliberale Challenge, bei der es darum geht, sich mit dem Motorrad schnellstmöglich durch die Vororte von Marseille zu schlängeln und am Ende glücklich grinsend die Bestellung bei den Kund*innen abzugeben. Den Ausweg aus den Depressionen, die ihn heimsuchen, sucht er im Konsum von Waren, Kenzo-Pullis, Louis-Vuitton-Täschchen und teuren Autos, und natürlich in der lebenslangen romantischen heterosexuellen Zweierbeziehung. Omar hingegen begreift diese Lebenswelt als das Gefängnis, das sie ist. In Sadiks Arbeit findet sich an keiner Stelle eine kritisch-künstlerische Brechung eines solchen Lebensentwurfs, sie verbleibt vielmehr das, was sie ist: kitschige Oberfläche.

Dieser Ausreiser sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in der Ausstellung ansonsten durchweg kritische Untersuchungen und Betrachtungen von Lebenswelten und des Alltags sowohl in Algerien selbst als auch in der französischen Diaspora finden. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Künstler*innen, auf die man in Europa in dieser Dichte selten trifft.

WANN: Die Ausstellung „En attendant Omar Gatlato: Épilogue“ läuft bis zum 15. Oktober.
WO: Magasin – Centre national d’art contemporain, 8 Esp. Andry Farcy, 38000 Grenoble.