Schwitzen gegen die Depression?
"The Mental Athlete" von Wednesday Kim bei Pylon-Lab

14. Dezember 2022 • Text von

Wenn die Winterdepression mal wieder so richtig zuschlägt und die Müdigkeit einsetzt, wird es dringend Zeit, sich zu bewegen. In ihrem neuesten Online-Projekt “The Mental Athlete” lädt die Künstlerin Wednesday Kim über Pylon-Lab zu einem Workout ein, um die Zeit Zuhause oder im Büro aktiv für sich selbst zu nutzen. Diese Trainingseinheit ersetzt gewiss keine Therapiestunde, soll die Teilnehmer*innen aber spielerisch anregen, ihre Lebensgeister zu reaktivieren und sich besser zu fühlen – gallerytalk.net startet einen Selbstversuch.

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Wednesday Kim, “The Mental Athlete” via Pylon-Lab.

Der Winter ist kalt, die Tage sind kurz und dunkel. Da kann die Motivation schon mal auf der Strecke bleiben, keine Frage. Die südkoreanische Künstlerin Wednesday Kim nimmt sich in ihren multimedialen Arbeiten immer wieder der menschlichen Psyche an, thematisiert eigene Erfahrungen, Gefühle und Traumata. In einem ihrer letzten Kunstprojekte “Aesthetics of Being Disappeared” ließ sie einen Therapeuten erscheinen, der Hilfsangebote stellte. In ihrem neuesten Projekt “The Mental Athlete”, das über die kuratierte Online-Plattform für digitale Medienkunst Pylon-Lab gehostet wird, sind es verschiedene Health Coaches, die einen vor dem Computer zu einem Workout motivieren wollen – das sich auch ganz easy mit dem Hausputz verbinden lässt. Denn ein sauberes Zuhause und ein gesunder Körper seien der Grundstein für einen klaren Verstand. Klingt vielversprechend.

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Screenshot “The Mental Athlete” by Wednesday Kim via Pylon-Lab.

Bevor es jedoch ans Schwitzen geht und man selbst aktiv werden muss, ist auf Pylon-Lab zum Auftakt ein knapp 5-minütiges-Video zu sehen, in das Wednesday Kim sowohl ihre eigenen Erfahrungen als auch die persönlichen Erfahrungen anderer Menschen, die zuvor an einer Online-Umfrage teilgenommen haben, einfließen lässt. Hier treffen viele Eindrücke und Personen aufeinander, die Musik ist laut, treibt den Puls hoch und es werden verschiedene Aktivitäten und Übungen gezeigt. In dem Clip tauchen auch immer wieder Smartphones auf. Die ständige Erreichbarkeit, die mit ihnen einhergeht, hat neben vielen weiteren Faktoren auch maßgeblichen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Die vielen Nachrichten und das ständige Scrollen können zu einer Reizüberflutung, geringeren Aufmerksamkeitsspanne und einem erhöhten Stresslevel führen. Die künstlerische Arbeit versucht, den Zusammenhang zwischen geistiger Gesundheit und der Sauberkeit Zuhause aufzeigen. Es wird mehrfach darauf hingewiesen, dass sich Bewegung positiv auf das Gehirn und seine Fähigkeiten auswirken kann. “The Mental Athlete” soll eine Hilfestellung, eine mentale Stütze, für alle anbieten, die im Home Office, Büro oder Zuhause mit einem Kopf festsitzen, der allmählich zu platzen droht.

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Wednesday Kim, “The Mental Athlete” via Pylon-Lab.

Klickt man sich durch das Online-Portal, kann man entweder zwischen einem Home-Workout oder einer Trainingseinheit vom Schreibtisch im Büro wählen. Beide Varianten gliedern sich in je vier Abschnitte mit Warm Ups, intensiveren Trainingseinheiten und Cool-Down-Übungen zum Ausklang. Entscheidet man sich für die Home-Variante, kriegt man direkt Übungen mitgeliefert, die man im Haushalt beim Putzen integrieren kann. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Hat man alle Einheiten erfolgreich hinter sich gebracht, erwarten einen motivierende Sprüche zum Abschluss. “Geh raus aus deiner Komfortzone!”, “Du bist stark!” oder “Lass uns gemeinsam trainieren!”. Gedanken und Anregungen kann man nach dem Workout direkt per E-Mail an die Künstlerin senden.

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Screenshot “The Mental Athlete” by Wednesday Kim via Pylon-Lab.

Entscheidet man sich auf der Startseite spontan dazu, doch nicht trainieren zu wollen, werden einem dennoch Video-Empfehlungen vorgeschlagen, die nochmals auf die Bedeutung von Bewegung und Sport für die mentale Gesundheit hinweisen. Von allen Seiten kriegt man hier also eindeutig signalisiert, aufzustehen und sich doch endlich mal wieder zu bewegen, um die depressiven und müden Geister zu vertreiben und etwas für sein Wohlbefinden zu tun. Depressive Phasen, gerade jetzt zur Winter- und bevorstehenden Weihnachtszeit, haben die meisten von uns schon einmal durchlebt. Auch das Gefühl von totaler Motivationslosigkeit ist uns sicher allen bekannt. Eine Depression jedoch ist eine psychische Krankheit, die sich nicht mit ein bisschen Bewegung und Putzen heilen lässt. Das haben die Lockdowns während der Corona-Pandemie und unzähligen Mental-Health-Walks uns bereits gelehrt. Der Vielschichtigkeit und den individuellen Ausprägungen von Depressionen kann “The Mental Health” an dieser Stelle nicht gerecht werden.

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Wednesday Kim, “The Mental Athlete” via Pylon-Lab.

Wie fällt nun das Fazit des Selbstversuchs aus? Tun die kurzen Trainingseinheiten dem Körper gut? Ganz sicher. Doch führt Sport alleine zum mentalen Seelenfrieden? Wohl eher nicht. Das digitale Projekt von Wednesday Kim wagt den Versuch, sich dem breiten und vielschichtigen Themenkomplex der mentalen Gesundheit anzunehmen und hebt einen einzelnen Teilaspekt hervor, der positive Auswirkungen auf Körper und Geist haben kann – mehr Bewegung. “The Mentale Athlete” bietet keine pauschale Lösung, es wird die Depression nicht einfach wegschwitzen. Dennoch können Sprüche wie “Bist du depressiv oder müde? Lass uns zusammen ein Workout machen!” oder “Komm raus aus der Komfortzone!”, die antreiben sollen, den trügerischen Eindruck erwecken, sie ließe sich so einfach mit ein paar Übungen vor dem Computer auslöschen.

Depressive Schübe können genau das aber auch eben verhindern. Man kann sich eventuell nicht selbst motivieren, nicht bewegen und fühlt sich wie gelähmt – man ist einer undefinierbaren Schwere ausgesetzt, die die Kontrolle über einen selbst übernimmt und ein “normales” Funktionieren zu den unterschiedlichsten Zeiten unmöglich macht. Das sollte man unbedingt im Hinterkopf behalten. Kunst kann und soll keine Therapie ersetzen, aber sie kann Anstöße geben und auch wenn es bei “The Mental Athlete” mit dem Thema der Bewegung insgesamt noch etwas vereinfacht dargestellt wird, ist es dennoch interessant und wichtig zu beobachten, wie universelle Probleme des alltäglichen Lebens in die Arbeit von zeitgenössischen Künstler*innen einfließen. Obwohl weltweit so viele Menschen von Depressionen betroffen sind, haftet ihnen noch immer ein Stigma an. Wenn sich nun aber auch die Kunstszene einreiht, mit in den Diskurs einsteigt und mehr Sichtbarkeit schafft für psychische Erkrankungen, können sich langfristig vielleicht auch viel mehr Leute mit bestimmten Positionen der zeitgenössischen Kunst identifizieren.”The Mental Athlete” kann ein erstes Herantasten ermöglichen, sicher und anonym vor dem Computer – probiert es aus.

WANN: Das Online-Projekt “The Mental Athlete” läuft noch bis Samstag, den 31. Dezember 2022. Am Samstag, den 7. Januar 2023 um 19 Uhr, wird als Closing Event ein Live-Workout von Rory Scott und Wednesday Kim via Zoom stattfinden. Der Link wird bald auf der Website und den Social-Media-Kanälen bekanntgegeben.
WO: Gehostet über Pylon-Lab, Teilnahme jederzeit von überall möglich.

Wenn ihr derzeit mit mentalen oder psychischen Problemen kämpft und dringend Hilfe braucht, könnt ihr die “TelefonSeelsorge” unter den Rufnummern 0800-1110111 und 0800-1110222 erreichen. Die Hotline ist täglich 24 Stunden erreichbar, anonym und kostenlos. Weitere Anlaufstellen findet ihr hier.