Blutegel im gelben Sandsturm
"Nurturæl" in der Lothringer 13 Halle

28. Juni 2022 • Text von

In der Lothringer 13 Halle tost ein greller Sandsturm durch die Ausstellungsräume. Mit Arbeiten der Künstler*innen Kanako Azuma, Sarah Doerfel, Nile Koetting und The Agency inszeniert „Nurturæl“ ein post-apokalyptisches Szenario, in dem neue, kollaborative Konzepte die Voraussetzungen für ein Leben im posthumanen Zeitalter bilden.

The Agency, “Solastalgia”, 2022, Installation und Performance, Calciumcarbonat, Granulat, Giessharz, Nebel, Licht, Klang, Maße variabel. Foto: Mirko Schütz

Alles ist vertrocknet. Kein Wasser, keine Pflanzen, keine Tiere, alles Leben ist verschwunden. Übrig geblieben ist nur noch Sand, staubige Körner. Und Nebel, überall Nebel. Unaufhaltsam breitet er sich in rhythmischen Bewegungen aus, verdeckt nach und nach den Boden, steigt in die Luft, setzt sich dort fest, strömt in jede Ecke, dringt in jede Pore. Grelles, gelbes Licht flutet den Raum, blendet die lichtempfindlichen Augen, während die Füße unsicher den Boden unter den dichten Nebelwolken suchen. Eine kontemplative Ruhe wird suggeriert, die sich erst nach und nach als heraufziehende Verlassenheit entpuppt. Geradezu eremitisch umkreisen die Besucher*innen diese in Gelb getauchte Wüstenlandschaft, wo andere Menschen nur als schattenhafte Umrisse aus der Ferne erkennbar sind. 

The Agency, “Solastalgia”, 2022, Installation und Performance, Calciumcarbonat, Granulat, Giessharz, Nebel, Licht, Klang, Maße variabel. Foto: Mirko Schütz

Die immersive Installation „Solastalgia“ der Performance Gruppe The Agency ist ein für den Menschen nicht mehr bewohnbares Ökosystem, eine Kraterlandschaft aus Trockenheit und Licht. Aus den Lautsprechern an der Decke dröhnen unbekannte Stimmen von oben herab, die sich als Sonne, Stein, Nebel und noch unbekannte Fossilien vorstellen. In unaufgeregter Tonlage erzählen sie vom unvermeidbaren Ende des Anthropozän, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Wie ein Parasit breitet sich der Nebel von dort in die anderen Räume der Ausstellung “Nurturæl” in der Lothringer 13 Halle aus und wird zum verbindenden Element zwischen den einzelnen künstlerischen Positionen. Die Arbeiten der Künstler*innen Kanako Azuma, Sarah Doerfel, Nile Koetting und The Agency erzählen vom Herrschaftsanspruch des Menschen über die Natur, die ihm – so hat er es gelernt – als Ressource grenzenlos zur Verfügung steht. Von seiner ambivalenten Beziehung zu Tieren und Pflanzen, die er gemäß ihrer Nützlichkeit und Funktion kategorisiert, domestiziert, züchtet, ausrottet.

Filmstill aus “Eternal Lovers” von Kanako Azuma, 2016, Video, 09:21 min.

Die Videoarbeit “Eternal Lovers” der japanischen Künstlerin Kanako Azuma wurde in einem botanischen Garten und in einer Zuchtstation für Orchideen gedreht. Die einzelnen Filmsequenzen wechseln zwischen Aufnahmen von dampfenden, tropischen Gewächshäusern und sterilen, kalten Laboren, wo die Blumen in Reagenzgläsern herangezüchtet werden. Die Handbewegungen mit Skalpell und Pinzette der dort arbeitenden Menschen wirken mechanisch, die unzähligen Reihen aus blühenden, weißen Blumen lassen in ihrer sterilen Perfektion erschaudern. Die industrielle Herstellung der als schön und somit als erhaltenswert definierten Orchideen erinnern schmerzlich daran, wie der Mensch gottgleich alles im Überfluss herstellt, was Profit verspricht.

Filmstill aus “Eternal Lovers” von Kanako Azuma, 2016, Video, 09:21 min.

Die skulpturale Arbeit “Emergency Kit (Bench)” des Künstlers Nile Koetting besteht aus einer weißen Museumsbank. In ihrem Inneren finden die Betrachter*innen eine Art Glasvitrine unter der in Vakuumfolie verpackte Lebensmittel liegen, die an Nahrungsmittel für Astronaut*innen erinnern und in der luftdichten Folie wohl für immer haltbar sind. “Emergency Kit” gehört zu Koettings performativer Installation “Remain Calm”. Diese fortlaufende Arbeit ist von routinierten Evakuierungsübungen an japanischen Schulen inspiriert, die dort im Falle von Naturkatastrophen, wie Erdbeben oder Tsunamis, einstudiert werden. Koettings Arbeiten erzählen von der unerlässlichen Anpassung des Menschen an eine neue Realität, die neue Formen des Zusammenwirkens fordern.

Nile Koetting, “Emergency Kit (Bench)”, 2021, Museumsbank, Emergency Kit, Maße variabel. Foto: Mirko Schütz

Ockerfarbene, wurmartige Wesen schlüpfen aus Kokons, schlängeln sich durch tümpelartige Gewässer oder baden genüsslich in Eimern voll rotem Blut. In der nächsten Bildsequenz saugen sie sich an tätowierten Hautschichten voll und fallen danach dick und vollgefressen von ihren Wirten ab. Die Künstlerin Sarah Doerfel lotet in ihrer Kunst Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Mensch und Tier aus. Im Zentrum ihrer Videoarbeit “Truce” steht die Zucht von medizinischen Blutegeln, deren entzündungshemmender Speichel seit Jahrtausenden als Heilmittel eingesetzt wird. Während ihr kontrollierter Einsatz Schmerzen lindern kann, richten die glitschigen Wesen erheblichen Schaden an, wenn sie sich unbemerkt an der menschlichen Haut festsaugen. 

Filmstill aus “Truce” von Sarah Doerfel, 2022, Video, 14:25 min, 16:9.

Das Setting für Doerfels Video ist zunächst die größte Blutegelfarm in Europa. Im zweiten Teil der Arbeit ist der Protagonist Ryuki zu sehen, ein Aktivist, der sich für eine artgerechte Haltung der Blutegel einsetzt, die in der Regel getötet werden, nachdem sie ihren Nutzen für die Medizin erfüllt haben. Ryuki lebt gemeinsam mit den Blutegeln in einer symbiotischen Beziehung: Sie lindern seine Schmerzen, er gibt ihnen durch seinen Körper Nahrung. Vor allem die Nahaufnahmen lassen die Blutegel in Dorfels Videoarbeit als Subjekte auftreten und machen den geradezu fürsorglichen Umgang mit den Tieren spürbar.

Filmstill aus “Truce” von Sarah Doerfel, 2022, Video, 14:25 min, 16:9.

Die einzelnen Arbeiten machen bewusst, dass die Grenzen zwischen Fürsorge und Respekt sowie Unterwerfung und menschliche Dominanz oftmals nicht eindeutig abzustecken sind. Die Ausstellung “Nurturæl” greift in ihrer Gesamtheit Gedanken über symbiotische Lebensverhältnisse auf, in denen der Mensch seine Abhängigkeit von Tier und Natur anerkannt hat. Am Ende steht die Frage, ob ein Entkommen aus der vernebelten Dürre überhaupt noch möglich ist. Vor allem an Tagen, in denen ein Hitzerekord nach dem anderen in Deutschland gebrochen wird, scheint ein zukünftiges Leben in wüstenhafter Stille gar nicht mehr so unrealistisch. 

WANN: Die Ausstellung „Nurturæl“ läuft bis zum 10. Juli.
WO: Lothringer 13 Halle, Lothringer Straße 13, 81667 München.

Mehr Bilder von „Nurturæl“ bei YYYYMMDD.

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