Geflochtene Mehrdeutigkeit
Noémi Barbaglia in der Produzentengalerie

18. Juli 2023 • Text von

Der Schleier steht gleichzeitig als trennendes und verbindendes Element zwischen dem Subjekt und dessen Umgebung. In der Produzentengalerie Hamburg erkundet Noémi Barbaglia mit ihren Skulpturen die Mehrdeutigkeit, die diesem Motiv inneliegt.

Installation view, Noémi Barbaglia, Produzentengalerie Hamburg, 2023. Courtesy: The artist and Produzentengalerie Hamburg. Photo: Helge Mundt

In der Produzentengalerie in Hamburg verdeckt ein dichter Schleier den vermeintlichen Blick auf ein Fenster. Der glänzend wirkende Stoff umhüllt die Umrisse dessen, was darunter liegt – und betont nur umso mehr das Fehlen von Information. Als mehrdeutiges Symbol steht das Motiv des Schleiers im Zentrum von Noémi Barbaglias Einzelausstellung in der Galerie auf den Fleetinseln.

Ihre verhüllten Skulpturen nehmen oft die Formen von Alltagsobjekten zur Basis. So auch die Skulptur in Form einer Glocke, die in der Mitte des Raums liegt und deren Oberfläche ebenfalls durch Stoff bedeckt ist. In seiner hier bestehenden Funktion der Verhüllung beweist der Schleier einen Aspekt seiner Doppeldeutigkeit: zwar fungiert er als widerständiger Schutz, ist aber dennoch offen nach Außen, da er dennoch die Form dessen anzeigt, die er zu bedecken versucht.

Noémi Barbaglia, Serious Seduction II, 2022, acrylic ink on glass fiber, epoxy resin, 240 x 95 x 14 cm. Installation view, Noémi Barbaglia, Produzentengalerie Hamburg, 2023. Courtesy: The artist and Produzentengalerie Hamburg. Photo: Helge Mundt // Noémi Barbaglia, Not yet titled, 2022, acrylic ink on glass fiber, epoxy resin, magnets, t = 12, Ø 80 cm. Installation view, Noémi Barbaglia, Produzentengalerie Hamburg, 2023. Courtesy: The artist and Produzentengalerie Hamburg. Photo: Helge Mundt

Barbaglias Skulpturen zeugen von ihrem Interesse an der Haltung eines Subjekts zu dessen Umgebung. Wichtiger Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind dabei die theoretischen Essays der Schriftstellerin und Philosophin Eva Meyer. In der Einleitung zu Meyers und Vivian Liskas gesammeltem Essayband “What does the Veil know?” fragen diese: „Was weiß der Schleier, will er uns aber nicht direkt sagen?“. Die anschließenden, gesammelten theoretischen Texte beleuchten dessen politische, ideologische und kulturelle Aspekte.

In Barbaglias textilen Erkundungen spielt auch die materielle Komponente eine wichtige Rolle. Zur Produktion nutzt Barbaglia sowohl Epoxidharz für die Formen, als auch Glasfaser-Gewebe für den Schleier. Dieser textile Werkstoff wird gewöhnlicherweise in Rollen als Meterware gehandelt und verkauft. Die drehende Bewegung des Abrollens bei der Weiterverarbeitung des Stoffs wiederholt sich auf mehreren Arten auch innerhalb ihrer Skulpturen.

Noémi Barbaglia, Not yet titled (Detail), 2023, acrylic ink on glass fiber, epoxy resin, t = 14, Ø 135 cm. Installation view, Noémi Barbaglia, Produzentengalerie Hamburg, 2023. Courtesy: The artist and Produzentengalerie Hamburg. Photo: Helge Mundt

An einer der Seitenwände lehnt eine kreisförmige Skulptur an der Wand, die zu einem Kranz geflochten ist. Weben, Flechten, Drehen – Eva Meyer begreift das Motiv des Schleiers als spiralförmige Bewegung, die nicht unähnlich einer Denkbewegung ist. Es ist kein Zufall, dass auch die ersten Formen der frühen Informationsverarbeitung aus der Seidenweberei kamen und somit die Anfänge der Digitalisierung bildeten.

Auf der inhaltlichen Ebene kann die Form des Kranzes unterschiedliche Bedeutungsebenen haben. Erinnerung, Freude, Trauer? In die Symbolik integriert ist das Flechten als traditionellerweise weiblich konnotierte Kulturtechnik, die darin eine Haltung des sorgfältigen Kümmerns erkennt. Der drehenden Bewegung folgend befinden sich an den Flechtpunkten jeweils kleine kugelförmige Magnete, die die Dynamik der Bewegung betonen.

Installation view, Noémi Barbaglia, Produzentengalerie Hamburg, 2023. Courtesy: The artist and Produzentengalerie Hamburg. Photo: Helge Mundt

Eine weitere Besonderheit ihrer Skulpturen ist die zarte Farbwirkung im Textil, die den gesamten Ausstellungsraum in ein sanftes Grün zu tauchen scheint. Ursprung dieser Wirkung ist Barbaglias Einsatz von Acryltinte, mit der sie ihre Skulpturen und geflochtenen Objekte einfärbt. Besonders betont wird dieser malerische Aspekt in der Skulpturserie “Forget-me-not” – benannt nach der gleichnamigen Pflanzenart – die sorgfältig in der obersten Schublade eines Papierschranks platziert ist. Obwohl diese in ihrer Form eher an Schnupftücher denken lassen, wirken sie in ihrer Präsentation wie getrocknete Blüten, die als florale Erinnerungsstücke an besondere Momente erinnern sollen.

Ambiguitätstoleranz bezeichnet die Fähigkeit, mit Situationen umzugehen, die mehrdeutig oder widersprüchlich sind. “Als Figur adressiert der Schleier die Frage nach dem uns Unzugänglichen, nach dem was sich entzieht”, lautet es im Ausstellungstext zu Barbaglias Soloausstellung in der Produzentengalerie. Ihre stofflichen Erkundungen können als Versuch gelesen werden, auf behutsame Weise die Fähigkeit der Besucher*innen zu stärken, Unsicherheit und Ungewissheit zu ertragen.

WANN: Die Ausstellung läuft bis Freitag, den 18. August.
WO: Produzentengalerie, Admiralitätstraße 71, 20459 Hamburg

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