Die Werk-Zeugen des Kraftaktes
Sofia Hultén in der Galerie Nordenhake

10. Februar 2023 • Text von

Stemmen, halten, sägen, polieren, tragen oder flechten: Sofia Hulténs Werke stehen dem Handwerk sehr nahe. Sie hatten Funktionen, haben sie immer noch. Sie sind gesammelte Werke, die in ihrer Vielzahl die Individualität der Einzelteile betonen oder Einzelteile, die ihren aufwändigen Entstehungsprozess bescheiden zurückhalten. Hulténs Objekte verstecken ihre Komplexität, ihre Vielschichtigkeit, ihre Kraft hinter Wiederholung, klarer Ästhetik und neuer Kontextualisierung. Mit “Hat Trick Cyclist” in der Galerie Nordenhake zeigt Sofia Hultén erstmals eine Soloshow in Berlin.

Sofia Hultén Statik Elastik
Sofia Hultén: “Statik Elastik”, 2011-ongoing, used scissor jacks, paint, metal, dimensions variable, 3 parts, installed at the gallery each 387 x 47 x 47 cm. Photo credit: Gerhard Kassner. Copyright: The Artist. Courtesy: The Artist and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City.

Drei zackige Säulen klemmen sich zwischen Decke und Boden der Galerie Nordenhake. Vielleicht klemmen sie auch nicht dazwischen, sondern halten die Decke, oder versuchen die Decke hochzustemmen, sich durch sie hindurchzudrücken? Die zu “Statik Elastik”-Säulen verschraubten Wagenheber sind verschieden stark auf Spannung gekurbelt, sie können sich der Raumhöhe anpassen, den Druck jederzeit erhöhen. Die individuellen Marker jedes einzelnen Wagenhebers, treten in ihrer Vielzahl und aus der Distanz in den Hintergrund. Sie fügen sich visuell zu einem großen kantigen Ganzen zusammen, könnten “k.o.” gehen, im Sinne von Kraft verlieren oder die Form des eckigen Buchstaben k und des geöffneten o senkrecht in den Raum schreiben.

Sie haben einen geschlossen, offenen Rhythmus. Sie ranken nach oben, wie Pflanzen unter Wasser, scheinen in diesem Bildfeld leicht und weich zu werden. Feststehend steht fest, dass sie von einem Möglichkeitsspielraum umgeben sind: Was wäre, wenn? Wenn Wagenheber auf Höchstspannung, dann Decke weg? Wenn ausgeleiert, wenn Verbindungen verloren gehen, was bleibt? Der gesammelte Schrott, der es mal war, öffnet in der neuen Hultén-Form zwischenmenschliche Themenfelder: Zusammenhalt, Druck an der richtigen Stelle, in Verbindung bleiben und nicht scheuen, Kraft zu investieren, um die Verbindungen aufrechtzuerhalten.

Sofia Hultén Undead, undead 2023
Sofia Hultén: “Undead, undead”, 2023, polished steel excavator teeth; overall dimensions installed: 25 x 113 cm; two elements each: 20,5 x 10 cm, and 25 x 9 cm. Photo credit: Gerhard Kassner. Copyright: The Artist. Courtesy: The Artist and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City.

Zähne, die sich an Baggern unermüdlich durch das Erdreich gefressen haben, schmücken nun auf Hochglanz poliert eine weiße Wand des Ausstellungsraumes. Auch sie erzählen in ihrer edlen Erscheinung überraschende Geschichten von Vampiren, Spiegelbildern, Schönheitswahn und Star Wars. Kein Erdreich mehr in Sicht, obwohl sich die Baggerzähne ohne Weiteres wieder an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz installieren ließen. Sie würden sich mit ihrem glänzenden Gewand etwas von der Masse der Zähne abheben, sie könnten sich kurz im Rampenlicht und anschließend in der Erde suhlen.

Ihrer Arbeitskraft tut die addierte Spiegelfunktion keinen Abbruch. Das Spiegeln funktioniert jedoch nur hier im Galeriekontext, Besucher*innen sehen sich selbst in den spitzen, massiven Objekten, die gleichermaßen eine Aura von Urwerkzeug und Untoten umgibt. Passend zu dieser Assoziation der Name “Undead, undead”, der wie alle Werktitel Hulténs Interpretationsspielraum öffnen. Ein Zahn erscheint wie Darth Vaders Maske, könnte aber auch eine Kuhglocke sein. Er hat so oder so eine stark akustische Komponente und schafft, wie alle Zähne, einen Zwischenraum zwischen Realität und Fantasie.

SofiaHulten Two of the same along the way, 2019Zusammen
Sofia Hultén: “Two of the same along the way”, 2019. found shoelaces, steel ball, 51 x 3 x 3 cm. Photo credit: Gerhard Kassner. Copyright: The Artist. Courtesy: The Artist and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City.

Schüchtern und zerbrechlich hat sich eine kleine Qualle aus Schnürsenkeln in der Raumecke verkrümelt. Sie zu entdecken schafft einen dieser besonderen Momente bei “Hat Trick Cyclist”, in dem kleinste Details zu großen Verweisen werden. Das geflochtene Objekt würdigt still und heimlich die Zerbrechlichkeit der Ozeane, der vielen kleinen Lebewesen auf dem Planeten. Gleichzeitig lässt das Objekt an das Flechthandwerk denken, daran, dass es als ein “weiblich” konnotiertes Handwerk gilt und die Qualle, die als männlich, weiblich und auch non-binäres Zwitterwesen existiert, somit nebenbei in übertragenem Sinne mit einem Tentakel zum Seitenhieb gegen die patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft ausschlägt. Der Schnürsenkel erinnert an die Kindheit, an das Schuhe binden lernen, an das neugierige in die Welt stiefeln, stolpern und wieder aufstehen. Lebensräume abschnüren, Mensch und Tier mit Füßen treten sollte nicht damit verbunden werden.

Sofia Hultén Particle Boredom
Sofia Hultén: “Particle Boredom”, 2017, Wood, two-component epoxy resin, 185 x 95 x 4.5 cm. Photo credit: Gerhard Kassner. Copyright: The Artist. Courtesy: The Artist and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City.

An der Wand lehnt eine Spanplatte, aus der ein Stück ausgesägt wurde, vielleicht für eine Spüle, doch leider krumm und schief und vermutlich deshalb als untauglich kategorisiert und auf der Straße abgestellt. Sophia Hultén geht an Aussortiertem nicht vorbei, sie bleibt daran hängen, entdeckt Liebenswürdiges darin – oder auch Langeweile, die sie würdigen möchte. “Particle Boredom”, Partikel der Langeweile, aber ja, auch langweiliges Board, also Brett. Als Wort- und Materialspiel entpuppt sich das Brett erst nachdem es übersehen und dann auf der Werkliste wieder entdeckt wurde. Diese Arbeit manifestiert Hulténs feinen Blick für das aussortiere Objekt, ihr Spiel mit der Täuschung, dem unscheinbaren künstlerischen Eingriff und der Zustandsveränderung. Sie fand die Spanplatte in dieser Form, schredderter sie und mischte die Späne mit Epoxidharz um sie letztlich wieder in ihre Ursprungsform zurückzugießen. So lehnt die Platte nun lässig oder gelangweilt an der Galeriewand und fordert nicht mehr, als nicht übersehen zu werden.

Sofia Hultén Psychosomatic Neckache
Sofia Hultén: “Psychosomatic Neckache # 4”, 2023, industrial lifting slings, steel excavator teeth, glass, steel suspension links, 192 x 108 x 22 cm. Photo credit: Gerhard Kassner. Copyright: The Artist. Courtesy: The Artist and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City.

Direkt daneben zieht ein überdimensionales Handydisplay an massiver Handykette Aufmerksamkeit auf sich und wird in seiner Präsenz nicht nur zum Kontrahenten der Spanplatte, sondern inszeniert sich auch als universeller Endgegner der alltäglichen Aufmerksamkeitsspanne. Das Smartphone nimmt viel Raum ein, in jeder Hinsicht. Das Band, das den riesigen Schein-Touchscreen trägt, hat Hultén aus Hebeschlingen geflochten. Hebeschlingen werden im industriellen Kontext genutzt, um Schwertransporte, extreme Lasten vor dem Abrutschen zu sichern. Das Handyband, das heute gefühlt jeder dritten Person um den Körper baumelt, sichert nicht vor einem Abrutsch, aber es trägt sicherlich auch sehr schwere Lasten. Lasten, die “Psychosomatic Neckache” (dt. psychosomatische Nackenschmerzen) verursachen, die sich in die Haut, aber auch in den Alltag einschneiden.

Das schwarze Glas des Displays spiegelt ein dunkles, ein abstrahiertes Bild der Wirklichkeit, eine verfälschte, eine Negativform der Realität wider, wenn man so will. Hulténs Touchscreen berührt auf indirekte Weise: Er hält Betrachtenden, der digitalen und der kaputtgefilterten Social-Media-Welt den Spiegel vor. Der Realitätsverlust bildet sich wortwörtlich in diesem Bildschirm ab, dessen Gewicht hier nur noch von Baggerzähnen und Hebeschlingen getragen werden kann. Wie lange noch, bis die digitale Welt untragbar für uns geworden ist?

Installation view, “Hat Trick Cyclist”, Galerie Nordenhake Berlin.
Installation view, “Hat Trick Cyclist”, Galerie Nordenhake Berlin. Photo credit: Gerhard Kassner. Copyright: The Artist. Courtesy: The Artist and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City.

Zunächst luftig leicht erscheint die Welt, in die Besucher*innen im hinteren Raum der Galerie eintauchen, oder vielmehr abheben. An blauen Himmel und Wolken lassen die gebatikten Jeanshosen denken, die über Schornsteine gestülpt dastehen. Auf Backsteinsockeln finden sie Halt und erinnern die Künstlerin an die Architektur der Arbeiterstadt Birmingham, in der sie aufwuchs. Die Skulpturen “Shimmy, Shimmy Shaved Air # 1-3” referieren mit ihrem Titel und ihrer Form jedoch auch auf die berühmte Dachfirstszene aus dem Film “Mary Poppins” in der das magische Kindermädchen mit den Banks-Geschwistern und Bert durch den Schornstein klettert, sie auf dem Dach tanzen und gemeinsam das Lied “Chim Chim Cher-ee” singen. 

Die Silhouetten der Schornsteine und der blaue Himmel prägen die Filmszene, die von einem Blackfacing-Vorwurfs des amerikanischen Literaturprofessors Daniel Pollack-Pelzner überschattet wird. Sein Vorwurf, den er im Januar 2019 in der New York Times publik machte, scheidet die Geister darüber, ob der Ruß des Schornsteines die Gesichter einfach nur beschmutzte, oder ein Rassismusvorwurf wirklich angebracht ist.

Sofia Hultén Shimmy, Shimmy Shaved Air
Sofia Hultén: “Shimmy, Shimmy Shaved Air # 1, # 2, # 3”, 2023, bricks, mortar, cardboard, bleached jeans, 180 x 36 x 36 cm. Photo credit: Gerhard Kassner. Copyright: The Artist. Courtesy: The Artist and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City.

Die Klammer von rassistischem Gedankengut und Ruß kommt unabhängig von dieser Debatte auch in Hulténs Skulpturen zum Tragen. Der Ruß, Stichworte: Kohle- und Eisen, Tagebau, Luftverschmutzung, im bereits erwähnten Birmingham-Bezug, und Rassismus in ihrer Materialwahl der Jeans, mit der sie auf die stark verwaschenen Hosen, die ihr Pflegebruder als Jugendlicher und Skinhead trug, verweist. Das “shaved”-Moment im Werktitel lädt sich auch in diesem Kontext mit einer weiteren Bedeutung auf – “shaved hair”, Glatzen. Auf einmal weht ein toxisch maskuliner Wind um die Jeanshosen und was bis dahin Schornstein schien, scheint Phallus geworden. 

Mit der Poppins-Referenz tanzt auch die Kapitalismuskritik um die Werkgruppe, denn obwohl die reichen “Big Banks”-Kinder Spaß, Freiheit und Unabhängigkeit dank Mary Poppins kennenlernen, ist am Ende doch alles wieder in den alten Strukturen. “We are flirting with things changing, but …” sind die Worte, mit denen Sofia Hultén im Interview anlässlich der Ausstellungseröffnung ihre Arbeit im Allgemeinen mit der gescheiterten Flucht vor dem Kapitalismus, dem Patriarchat im Film und der Realität zusammenbringt. Die Spanplatte kehrt zurück zur Ursprungsform, das Smartphone baumelt weiterhin schwer, einflussreich und griffbereit an Körpern und der Kapitalismus kann weiterhin fröhlich auf unseren Dächern tanzen.

Installation view, “Hat Trick Cyclist”, Galerie Nordenhake Berlin.
Installation view, “Hat Trick Cyclist”, Galerie Nordenhake Berlin. Photo credit: Gerhard Kassner. Copyright: The Artist. Courtesy: The Artist and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City.

Mit ihrer Arbeit “Footage # 19” weckt Hultén zum Abschluss der Show noch das beklemmende, damals nie enden scheinen zu wollende Lock-Down-Gefühl, mit dem sich Türen von einem Tag auf den anderen geschlossen haben. Auf unterschiedlichste Weise und doch gemeinsam sind alle in der Zeit gegen Wände gelaufen. Dieses Gefühl fängt Hultén ein, indem sie sich mit Graphit auf den Schuhsolen die Füße abgetreten hat. Sie lief auf der Stelle, bis sich die Fußabtreter-Gitter in das Papier einprägten, abfärbten und ihre Spuren hinterließen, wie die Zeiten, des sich verängstigt eingesperrt Fühlens. Vor dem Werk fühlt sich heute zum Glück alles wieder leichtfüßiger und wie ein vorbeigezogenes Gewitter an.

Beschwingt, amüsiert, in eigenen Erinnerungen schwelgend und doch nicht tanzend werden Besucher*innen Sofia Hulténs Ausstellung verlassen. Das Handwerk werden sie mehr zu schätzen wissen als vor ihrem Besuch und sie werden bei der nächsten Spanplatte am Straßenrand, beim Schuhe schnüren oder dem Beobachten eines Baggerzahns, der den Asphalt aufbeißt an mehr denken als das, was sie sehen. “Hat Trick Cyclist” gibt Werkzeug in die Hand, weitet und schärft den Blick in die Welt, wie die neuste Kameratechnik im iPhone 14 Pro (Vorsicht: kapitalistischer Sarkasmus!).

WANN: “Hat Trick Cyclist” läuft noch bis Samstag, den 11. März.
WO: Galerie Nordenhake, Lindenstraße 34, 10969 Berlin.

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