Im Käfig der Hochhaussiedlung
Mathias Weinfurter in der Moltkerei Werkstatt

21. März 2023 • Text von

Die Ankerstraße im nordrhein-westfälischen Sankt Augustin ist statistisch gesehen vom Rest der Gesellschaft abgehängt. Zugleich ist sie auch Heimatort des Künstlers selbst. In einer Ausstellung in der Kölner Moltkerei Werkstatt betreibt Mathias Weinfurter künstlerische Feldforschung, lotet die Abgründe in den Geometrien der Hochhaussiedlung aus und tatsächlich tun sich in Rastern wie Gitterstäben plötzlich Muster auf. Was, wenn sich die zugrundeliegende Machtstruktur ändern ließe, die qua Geburt gefangen nimmt?

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Mathias Weinfurter, Ankerstraße, Solitär, 2023, hot dip galvanised steel, 834 x 170 x 208 cm, © the artist, photo: Bernhard Adams.

Lichte Gitterstäbe, die Ausblick gewähren, deren Engstand jedoch gefangen macht. Gitter, die da sind und da waren, auch wenn sie manchmal unsichtbar werden, je länger man auf sie starrt. Dazwischen wohnt die Zuversicht, sitzen Hoffnungen und Träume, hockt das erwartungsvolle Ich. Die Wege im Innern sind immerzu von sichtbaren und unsichtbaren Zäunen begrenzt, doch es hegt den Wunsch, der Begrenzung zu entkommen. Obwohl es weiß, dass es nur selten einen Ausweg gibt. Das Gitter ist dabei nach oben offen, lässt den Blick schweifen und doch fügt es sich in abgetrennten Bereichen mit Stäben hinter Stäben zum Labyrinth. Ein gedanklicher Höhenflug, der an der nächsten Wand sein Ende findet. 

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Mathias Weinfurter, Ankerstraße, 2023, installation view, © the artist, photo: Bernhard Adams.

Graue, rote, orangefarbene Balkone besitzen ihre eigene Geometrie, zergliedern in bunten Paneelen die nahegelegene Wand, so wie es zuweilen die Lebensläufe der Bewohner*innen zergliedert hat. Hochhäuser, Plattenbauten streben auf, sind dem Himmel oben nah. Dort, wo in Wolkenburgen der Traum vom anderen Leben ein Zuhause hat, bis der Blick aus traumverlorener Höhe in Hochhausschluchten bis zum Grund hinstürzt. Die echten Abgründe aber lauern in den Wohnungen im Innern, wo eins dem anderen gleicht, wenn in der alltäglichen Realität kein Raum für Gedankenspiele, für Phantasmen bleibt.

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Mathias Weinfurter, Ankerstraße, 2023, installation view, © the artist, photo: Bernhard Adams.

In der Kölner Moltkerei Werkstatt lässt Mathias Weinfurter die Ankerstraße anhand gleichförmiger Fassaden mit bunten Balkonen und einem aus Bauzäunen gefügten maßstabsgetreuen Modell von fünf Hochhäusern im Ausstellungsraum auferstehen. Die Straße ist Teil einer Siedlung im nordrhein-westfälischen Sankt Augustin, in welcher 2.200 Einwohner*innen auf 0,61 Quadratkilometern leben. Eine Stadt wie viele, scheint graue Trostlosigkeit kein Alleinstellungsmerkmal zu sein. Doch die  Siedlung hebt sich ab von anderen, stellt einen Rekord auf, der ins Negative reicht. Denn sie besitzt den höchsten Anteil von Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, von Menschen mit Migrationshintergrund, verzeichnet den zweithöchsten Anteil an Haushalten mit Kindern und einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Alleinerziehenden. 

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Mathias Weinfurter, Ankerstraße, 2023, installation view, © the artist, photo: Bernhard Adams.

Statistiken geben Auskunft, doch bleiben steril und mathematisch kalt. Erst der Besuch vor Ort, die Erzählungen von Bewohner*innen machen spürbar, wie sich die Wirklichkeit der Ankerstraße tatsächlich anfühlt. Erzählungen des Künstlers zum Beispiel, der in der Siedlung aufwuchs und seine Jugend in den 1990er Jahren aus kindlichen Augen unter dem kollektiven Dach als Abenteuerspielplatz beschreibt. Selbst mit der titelgebenden Ankerstraße biografisch verwoben, ist es kein Blick von außen, der auf die prekären Lebensverhältnisse fällt, sondern eine sensible Reflexion der eigenen Lebensgeschichte und was diese zu Beginn äußerlich bedingt hat. 

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Mathias Weinfurter, Ankerstraße, 2023, installation view (detail), © the artist, photo: Bernhard Adams.

Wie ist es wohl, dort zu leben, wo die Menschen wegwollen, aber nicht jeder und jede den Absprung schafft? Wenn die Gitterstäbe zuweilen niedrig sind und dann wieder mannshoch, eine Flucht unmöglich erscheint? Weinfurter gelang der Weggang, doch kehrt er für die Ausstellung an den Ort seiner Kindheit zurück. Er analysierte dessen Gegebenheiten in Besuchen im Stadtarchiv, nahm Abdrücke von den Fassaden, würdigt die Architektur eines genaueren Blicks. Gleich Fingerabdrücken finden sich die Spuren der Wände auf modulartig angelegten Bambuspaneelen wieder, hat jedes Gebäude eine eigene Identität. Tatsächlich lassen sich so Analogien in Grundrissen, Fassaden, Biografien ausmachen, läuft das Leben im Innern in wiederkehrenden Schleifen ab. Was, wenn der Wohnort, das Zuhause, das sichere Refugium sich in das Selbstverständnis einschreibt und gleichsam Käfig bleibt?

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Mathias Weinfurter, Ankerstraße, Solobau Relief, 2023, concrete from concrete recycling, gypsum fibre boards, 680 x 380 x 3,5 cm, © the artist, photo: Bernhard Adams.

In der Moltkerei Werkstatt versucht Weinfurter den Lebensraum in Sankt Augustin in den Ausstellungsraum zu überführen, zwei gänzlich gegensätzliche Kontexte miteinander zu verknüpfen. In den Geometrien der Fassaden ergeben sich plötzlich Muster in der Abstraktion, die auf die Machtstruktur verweisen, welche eine solche Siedlung erst entstehen lässt. Aus biografischem Erleben wurzelnde künstlerische Feldforschung, Ursachenforschung, mündet in eine Ausstellung, die nicht nur grau ist, sondern auch vielfältig und bunt. Fast wie Farbfeldmalereien wirken die Objekte an der Wand, erzeugen Tiefe in der Fläche, lassen sich Fassadeneinschreibungen als Einkerbungen, Stahlverwebungen quasi mit den Augen befühlen.

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Mathias Weinfurter, Ankerstraße, Solitär, 2023, hot dip galvanised steel, 834 x 170 x 208 cm, © the artist, photo: Bernhard Adams.

Eine Fotografie gewährt gleich einem Fenster Ausblick in die Realität vor Ort, zeigt den Balkon der Wohnung, in welcher die Familie des Künstlers ansässig war. Auf einem der anderen Balkone ist eine Leiter an die Wand gelehnt. Sie korrespondiert mit der unveränderlichen sogenannten Status-Quo-Leiter an der Grabeskirche in Jerusalem, die Weinfurter im Kontext eines Aufenthaltes 2013 in Erinnerung blieb. Von der zufällig entstandenen und nun festgeschriebenen Situation in Jerusalem inspiriert werden vom Künstler seit 2018 an den verschiedensten Orten eigene Status-Quo-Leitern installiert. Fotografisch dokumentiert sind sie biografische Wegmarken, im gegenwärtigen Zustand für immer angelegt und doch im Grunde wie scheinbar festgefügte Machtstrukturen veränderlich. Die Leiter ist Ausreißer in der Geometrie der Hochhäuser, in deren eigentümlicher Schönheit die Siedlung gleichermaßen zum in der Erinnerung verklärten Sehnsuchtsort wird, der in vielerlei Weise gefangen nimmt.

WANN: Die Ausstellung läuft bis Sonntag, den 16. April.
WO: Moltkerei Werkstatt, Moltkestraße 8, 50674 Köln.

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