Grotesk Genial
Leila Hekmats audiovisuelle Perversion

21. September 2022 • Text von

Leila Hekmats Arbeiten befassen sich mit Gesellschafts- und Familienstrukturen, Geisteskrankheiten, normativen Regeln und dem Grotesken. Sie verbinden Humor und Perversion in Übersteigerung und einer einzigartigen Ästhetik. Im Interview spricht die Künstlerin über ihre aktuelle Ausstellung, Ikonographie und Inspiration, frühere Arbeiten und praktische Aspekte ihres künstlerischen Ansatzes.

Leila Hekmat haus am waldsee gallerytalk berlin art week
Leila Hekmat, Triple Curly, 2020. Tryptichon-Still. Digitale Video-Collage. Courtesy die Künstlerin und Galerie Isabella Bortolozzi.

gallerytalk.net: Deine Ausstellung im Haus am Waldsee trägt den Titel „Female Remedy“. Was wird geheilt?
Leila Hekmat: Nichts. Dies ist eine Einrichtung für eine Krankheit, die keiner Heilung bedarf. Der Zweck dieser Krankenstation ist es, bestehende Unverschämtheiten zu stärken und durch komische Erleichterung und Possenreißen Wachstum zu fördern. Ein Heilungsort für die reuelose Frau.

Was war Dein Initialgedanke für die Ausstellung?
Ich wollte einen Weg finden, das Haus und alle Räume als einen verbindenden Organismus zu nutzen.  Ich wollte den häuslichen Charakter des Hauses wiederbeleben, aber auch einen Rahmen für eine Geschichte finden, auf der ich aufbauen konnte.

Die Installation beinhaltet Krankenhausbetten, einen Operationssaal, eine Kapelle und verschiedene Säle für spezifische Behandlungen. Siehst Du sie eher als Utopie oder als Dystopie?
Ich schätze, es tendiert zu einer utopischen Vision, aber nicht unbedingt. Es liegt eine Menge Traurigkeit und Verzweiflung zugrunde. 

Gute Stichworte: Viele Elemente in Deinem Werk können als grotesk bezeichnet werden oder weisen Bezüge zum Grotesken auf – warum gefällt es Dir so gut?
Ich mag eher die Idee oder den Gedanken, dass etwas grotesk ist, als groteske Dinge an sich. Ekel ist für mich ein komisches Gefühl. Ekel oder intensive Abneigung. Ich finde es lustig und interessant, was dieses Gefühl auslöst und welches Verhalten es hervorruft.

Leila Hekmat haus am waldsee gallerytalk berlin art week 6
Leila Hekmat, Gloriette Zine, 2021. Exzerpt. 36-seitiges Magazin, Digitale Collagen, Offset-Print. Studio Berlin, Berghain, 4. September 2020 – 29. August 2021. Boros Foundation. // Leila Hekmat, Female Remedy; Lucy Goose, 2022. Digital-Collage. Courtesy die Künstlerin.

Die Kostüme – beispielsweise in Deiner Arbeit „Crocopazzo!“ – wirken wie eine Mischung aus elisabethanischer Kleidung und Cowboy-Stil. Woher nimmst Du Deine Inspirationen?
Ich verbringe viel Zeit im Internet, in Bibliotheken und Buchhandlungen, um Bilder zu sammeln. Die Inspiration kommt von überall her. Die Kostüme in „Crocopazzo!“ stammen von Westernkostümen, Barockkostümen aus dem 18. Jahrhundert, elisabethanischen Kostümen, Grand Ole Opry, Nacktkostümen, Howdy Doody, Kinderfernsehsendungen aus den 50er Jahren, The Draftsman Contract, Priestern, Kardinälen, Cowboys. Eine bunte Mischung also.

Deine Arbeiten thematisieren gesellschaftliche und familiäre Strukturen. M.J. Harper, einer der Schauspieler in „Crocopazzo!“, beschrieb es als ein Stück “über Familienstrukturen und die Komplexität der Gesellschaft, [über das Aufwachsen] unter Beachtung von Regeln, die von Leuten aufgestellt werden, die wir nicht kennen, ohne dass wir notwendigerweise mit ihnen einverstanden sind.” Siehst Du einen Ausweg aus einschränkenden Strukturen?
Sicher. Es gibt einen Ausweg aus den alten und überholten konservativen Strukturen, aber an ihre Stelle werden neue Regeln und Strukturen treten; die Regeln sind willkürlich. In der Familie dreht sich alles um Co-Abhängigkeit. Und so wird es immer eine Art Hierarchie und Struktur geben, der die Gruppe folgen muss, um im Rudel bleiben zu dürfen. Andernfalls wird man zurückgelassen.

Ein Zitat in „Crocopazzo!“ lautete: “Gleichgewicht ist Wahnsinn und Selbstverbesserung ist der Fluch des Kapitalismus”. Das klingt ziemlich verzweifelt, dabei wirken Deine Werke aber nicht negativ oder destruktiv.  Wie blickst Du auf die allgemeine aktuelle Situation?
Ich bin nicht hoffnungslos. Allerdings fühle ich oft ein Gefühl der Verzweiflung. Ich denke, ich suche oft nach dem Humor in all dem Gegenwärtigen. Ich versuche mir vorzustellen, dass jeder in einem ungeschickten Clownskostüm herumläuft, ständig gegen Wände stößt und sich in die Hose macht. Es ist ein Chaos, aber es ist lustig.

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Leila Hekmat, Crocopazzo!, 2020. Backstage-View. Live-Performance, Installation und Film. 20. Februar – 20. Juni 2020. Courtesy der Künstlerin und Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. Foto: Rob Kulisek.

In diesem Sinne könnte man den ersten Teil des Satzes auch so lesen: “Das Gleichgewicht liegt im Wahnsinn”, was bedeutet, dass ein verrückter Ansatz zu einem persönlichen Gleichgewicht führen kann. Was ist Dein Interesse am so genannten Wahnsinn?
In meinen Arbeiten stelle ich die Idee in Frage, was oder wer verrückt ist. Manchmal frage ich mich, ob jemand, bei dem eine Art von Geisteskrankheit diagnostiziert wird, gar nicht geisteskrank ist, sondern ob wir vielleicht nicht die Mittel haben, um ihn zu verstehen; beziehungsweise ob er die Welt vielleicht tatsächlich viel klarer sieht und begreift, als wir es tun.

Deine Arbeit ist ein Beispiel für “Drama” im besten Sinne – Gesang, Schauspiel, Übertreibung. Welche Beziehung hast Du zum klassischen Theater?
Vielleicht liegt es daran, dass ich Perserin bin? Perser sind sehr übertrieben dramatisch. Oder weil ich Jüdin bin? Ebenfalls sehr dramatisch.

Ein wiederkehrendes Motiv in Dienen Arbeiten ist Blut, sowohl wörtlich als auch metaphorisch. Wofür steht die Referenz zum Blut?
Blut bedeutet für mich ein Gefühl der Verzweiflung, der Einsamkeit, der Verwirrung, des Untergangs, der Angst und der Beklemmung. Auch einfach Ungeschicklichkeit – ungeschickt zu sein und hinzufallen.

Viele Deiner Figuren besitzen eine äußerst auffällige Frisur. Welche Bedeutung hat das Haarstyling in Deinem Werk?
Ich habe eine Leidenschaft für Perücken und das Perückenmachen als Kunstform. In den letzten sechs Jahren habe ich mit einer sehr talentierten Perückenmacherin, Franziska Presche, zusammengearbeitet, die mir beigebracht hat, wie man Perücken herstellt. Ich liebe die Perückenräume in den Hinterzimmern von Theatern und all die Werkzeuge, Materialien und Utensilien, die mit Haaren und Perücken zu tun haben. Das hat alles mit Fetisch und Theatralik zu tun, denke ich.

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Leila Hekmat, Female Remedy; Tina, 2022. Digital-Collage. Courtesy die Künstlerin. // Leila Hekmat, Female Remedy; Shirley, 2022. Digitale Collage. Courtesy die Künstlerin.

Visuell verbinden sich in Deinen Stücken Stile und Epochen. Sind Deine Arbeiten in bestimmten historischen Perioden angesiedelt oder eher universell zu interpretieren? 
Nicht wirklich. Ich verwende aber gerne eine bestimmte Art von Sprache. Eine bestimmte Art von amerikanischem Englisch, das manchmal etwas veraltet ist, vielleicht aus dem Fernsehen, aus Fernsehsendungen aus den 1950er, 60er, 70er Jahren. Ansonsten mische ich in meinen Arbeiten gerne Epochen und Stile.

Welche bildenden Künstler, Schriftsteller, Dichter, Theoretiker haben Deine Arbeit beeinflusst?
Da gibt es viele. R.D. Laing, Peter Greenaway, Jean Genet, John Waters, Pasolini, Fellini, Anthony Artaud, Valerie Solanis, Lucille Ball, Milos Forman, Joan Rivers, Molière, Mallarmè, Mike Kelley, Jack Smith, Dorothy Parker, Ulrike Ottinger, Kenneth Anger, Phyllis Diller, Yvonne Rainer, Michael Clark, außerdem spielen satirische Zeitschriften wie Hara Kiri und Mad Magazine, Harold Pinter. Pierre Molinier spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle.

Auf Deinem Instagram-Account postest Du regelmäßig komplex kuratierte Stories. Sie zeigen höchst unterschiedliches Bildmaterial, kunsthistorische Quellen wie Drucke oder Gemälde, historische Kleidung oder Bilder davon, Vintage-Fotografien oder Bilder aus Deinem Arbeitsprozess. Sie wirken wie digitale Collagen und Skizzenbücher. Welche Rolle spielen die digitalen Medien für Deine performative Praxis?   
Ich weiß nicht, warum ich diese Stories teile. Meine Forschung und mein Atelier sind so privat, dass es seltsam ist, dass ich manchmal den Drang verspüre, diese Dinge zu teilen. Aber ich wähle sie aus und ordne sie mit der Absicht an, eine Geschichte daraus zu weben. Ich schätze, dass es mir eine gewisse Befriedigung verschafft, wenn ich weiß, dass es ein paar Leute gibt, die Freude an dem Fenster haben, das diese Sequenzen zu meiner Arbeit bieten.

WANN: Die Ausstellung „Female Remedy“ von Leila Hekmat läuft bis zum 8. Januar 2023.
WO: Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, 14163 Berlin.

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