Fliegende Körper und nackte Tatsachen
Florentina Holzingers Performance „TANZ“

13. Dezember 2021 • Text von

In den Arbeiten von Florentina Holzinger bleibt kein Höschen an und keine Wahrheit verborgen. Mit ihrem Stück „TANZ. Eine sylphidische Träumerei in Stunts“ zeigte die Choreografin und Performance-Künstlerin ein Action-Ballett in den Sophiensälen Berlin. Holzinger arbeitete sich am weiblichen Körper zwischen Lustobjekt und entkörperlichtem Ideal ab und knüpfte an (post-) moderne Performance-Traditionen an.

Florentina Holzinger, „TANZ. Eine sylphidische Träumerei“, 2020, Foto: © Eva Würdinger.

Wer an klassisches Ballett denkt, der denkt unweigerlich auch an Spitzentanz, Tutu und die sanften Klänge eines Streichorchesters. An genau diese Tradition des klassisch-romantischen Balletts aus dem 19. Jahrhundert knüpft das Stück „TANZ“ von Florentina Holzinger bei seiner Eröffnung in den Berliner Sophiensälen an – und bricht mit diesen Sehgewohnheiten ab Sekunde eins. Sanfte Klaviermusik und Ballettfiguren wie Pliée, Fondue und Frappée eröffnen den ersten Akt des Stücks, trainiert von einer erfahrenen Balletttänzerin, die nichts trägt als einen schwarzen Gurt um ihren Bauch. Mit den Worten „Today I’m going to teach you how to govern your body“ fordert sie ihre Ballettschülerinnen auch dazu auf, es ihr gleichzutun und sich ihrer Kleidung zu entledigen. Bald sind alle nackt, die Körper der Tänzerinnen liegen als Experimentierfeld und Projektionsfläche dem Publikum offen.

Diese Körper sind jung und alt, sie sind muskulös, haben aber nichts von dem schlanken und sehnigen, dem gewohnten Körper im Ballett, der zurücktritt hinter der Bewegung, die alleiniger Ausdruck sein soll. In „TANZ“ wird der weibliche Körper mit all seinen Gliedern und Begierden dem Publikum geradezu aufgedrängt, Vulven werden offen präsentiert, Masturbation öffentlich zur Schau gestellt.

 
Florentina Holzinger, „TANZ. Eine sylphidische Träumerei“, 2020, Fotos: © Eva Würdinger.

Von Yoko Ono über Carolee Schneemann und Marina Abramović ist die Nacktheit auch in der Performance-Kunst ein berühmtes Mittel des Tabubruchs und der weiblichen Selbstermächtigung, das an feministische Traditionen anknüpft und oft auf einem schmalen Grat wandert zwischen platter Provokation und sinnstiftendem Stilmittel. Florentina Holzinger gelingt Letzteres. Sie bedient sich dieser Ausdrucksform im Kontext des Tanztheaters mit einer diversen, rein weiblichen Besetzung. Die Tänzerinnen in ihrem Stück sind zwischen 20 und 79 Jahre alt. Die älteste von ihnen ist Beatrice Schönherr aka „Trixie“. Sie hat als einzige der Tänzerinnen auf den großen Bühnen dieser Welt und als erste Ballerina die „Le Sacre de Printemps“ nackt getanzt. 

In „TANZ“ ist sie erneut nackt und verkörpert die alte Schule, steht für die romantischen Anfänge des Balletts, wird zur Drill-Meisterin der selbsternannten „Queen of Swans“ und präsentiert sich immer wieder auch als Parodie dergleichen. Zum Beispiel, wenn sie in der Mitte des Stücks auf einem Schreibtischstuhl sitzt und eine männliche Rapstimme lipsinct, während sie sich wie in den Lyrics beschrieben ihre „pussy“ massieren lässt. Auch die Wiener Choreografin und Performancekünstlerin Florentina Holzinger selbst steht in „TANZ“ auf der Bühne, auch sie reckt ihre nackten Beine über die Ballettstange, schwingt sich akrobatisch auf hängende Motocross-Maschinen und singt A capella. Holzinger bricht damit initial die gewohnte Hierarchisierung im Tanztheater auf, die viel zu häufig auch zu Missbrauch, Drill und Manipulation führt und wiederholt dabei das Performance-Element der zur Schau gestellten Selbsterfahrung.

Als besonders sinnhaft und sinnstiftend erweist sich die Nacktheit am Ende des Stücks, als die Körper in Kunstblut getränkt und zur Leinwand geworden sind für das Leid und den Schmerz der Tänzerinnen ebenso wie für ihren Kampf der Selbstermächtigung, der durch #MeToo eine neue Plattform bekommen hat. 

Florentina Holzinger, „TANZ. Eine sylphidische Träumerei“, 2020, Foto: © Eva Würdinger.

Im Zentrum der Handlung des Stücks „TANZ“ steht das Bild der Sylphen, mythische Wesen mit einem menschenähnlichen Körper und der Fähigkeit sich fortzupflanzen und zu fliegen. Auch die Tänzerinnen in „TANZ“ sollen zu Sylphen werden, sie werden als lustvolle Wesen präsentiert und dazu gedrillt, es auf eine höhere zu Ebene schaffen, ihren Körper beherrschen zu lernen und damit über sich hinauszuwachsen – ja, fliegen zu lernen. Der Moment, in dem die Tänzerinnen in Holzingers Stück sich selbst an ihren Haaren oder mithilfe von live auf der Bühne in den Rücken transplantierte Haken mit einem Seilzug in Richtung Decke ziehen, erreicht die Provokation die höchste Stufe. Das Grauenvolle wird zum Erhabenen. Noch so eine Kategorie, die aus dem klassischen Theater stammt und auf Aristoteles zurückgeht, hier jedoch mit höchst unklassischen Mitteln, durch Schock und Provokation erreicht wird. 

Die Performance löst bei den Zuschauer*innen an diesem Punkt selbst körperliche Reaktionen aus, von Staunen über Ekel bis hin zur Abscheu, die zum Verlassen des Theatersaals motiviert, ist an diesem Abend alles dabei. Der Bruch dieser Szene, der Wandel der fliegenden Tänzerin von der Ballerina zur hysterischen Hexe, vom Ballett zum Action-geladenen Massaker, das auf den Sound von Techno und Pumpguns orchestriert ist und ein Schlachtfeld aus Kunstblut und menschlichen Gliedmaßen hinterlässt, ist der Punkt an dem alles zusammenkommt und die sylphidische Träumerei zum echten Alptraum wird.

Florentina Holzinger, „TANZ. Eine sylphidische Träumerei“, 2020, Fotos: © Nada Žgank.

Das Tanz- und Performance-Stück „TANZ“ ist formal ein wahres Spektakel, das alle Genregrenzen sprengt und sich dabei stets in einem Spannungsfeld aus Adaption, Reproduktion und Konterkarierung vorhandener tänzerischer ebenso wie feministischer Traditionen und Verhältnisse bewegt. Florentina Holzingers Stück ist im Bereich des Tanzes und des Theaters verortet, es basiert auf den klassischen Traditionen dieser Kulturbereiche und spielt dabei ganz leichtfüßig mit den Mitteln der Akrobatik und des Stunts sowie mit Elementen aus Splatter, Pornografie und Popkultur. „TANZ“ ist nicht nur ein wirklich gutes Beispiel dafür, wie postmodernes Theater geht, sondern auch dafür, wie gelungene, politische künstlerische Performance aussehen kann. „TANZ“ bildet nicht nur einen gelungenen Abschluss von Holzingers Trilogie zum Körper als Spektakel, die Inszenierung bestätigt auch, dass die 35-jährige Österreicherin aktuell zurecht als eine der aufregendsten Choreografinnen Europas gefeiert und mit Preisen überhäuft wird. 

WANN und WO: Alle Aufführungen und Spielorte von „TANZ. Eine sylphidische Träumerei“ und anderen Stücken von Florentina Holzinger findet ihr hier.

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