Peitschen, Zwiebeln & der Seelenfrieden
Marina Abramović in der Kunsthalle Tübingen

25. Oktober 2021 • Text von

Sie ist weltweit bekannt, hat die Performance zur Kunstform erhoben und geht stets dorthin, wo es wehtut – Marina Abramović ist eine Grenzgängerin auf der Suche nach ihrem Selbst und der Extremwahrnehmung ihrer eigenen Spiritualität. Die Kunsthalle Tübingen richtet als erste Institution das Augenmerk auf die spirituellen Aspekte im Werk der 1946 in Belgrad geborenen Künstlerin und zeigt erstmalig die Mixed-Reality-Arbeit “The Life” im musealen Kontext.

Hologramm der Performance-Künstlerin Marina Abramović, die ein rotes Kleid trägt und ihre Arme von sich streckt. Ihr Blick führt an den Betrachtenden vorbei.
Marina Abramović, The Life, Mixed Reality Performance, 2019 © Marina Abramović, VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Courtesy of the Marina Abramović Archives and Tin Drum, Inc.

Mit dem Werk von Marina Abramović verhält es sich irgendwie immer ambivalent, es bewegt sich irgendwo zwischen völligem Wahnsinn und absoluter Faszination. Auf der einen Seite scheinen ihre künstlerischen Konzepte oft so simpel und gleichzeitig doch schier genial, weil sich kaum jemand das traut, was sie in ihren Arbeiten zum Ausdruck bringt. Sie peitscht sich solange aus, bis sie keinen Schmerz mehr fühlen kann, isst mehrere rohe Zwiebeln während sie über ihre Alltagsbeschwerden klagt oder sitzt über Tage regungslos da, ohne dabei auch nur einen Mucks von sich zu geben. Es klingt in der Theorie so einfach, erfordert aber ein Höchstmaß an Disziplin, das wohl den meisten, die ebenfalls der Generation Smartphone angehören, heutzutage eher fremd scheint. Heute grenzt es schon fast an ein Wunder, wenn es mal für ein paar Stunden gelingt, nicht auf das Handy zu schauen oder zum hundertsten Mal am Tag Instagram zu checken.

Ausstellungsansicht der Kunsthalle Tübingen, der Raum ist dunkel und es sind Performance-Videos der Künstlerin Marina Abramovic zu sehen. Im Vordergrund sieht man verschiedene Videos, wo sie nackt tanzt und zu Boden fällt, im Hintergrund sieht man ihren roten, nackten Rücken
Blick in die Ausstellung MARINA ABARAMOVIĆ. JENES SELBST / UNSER SELBST in der Kunsthalle Tübingen, Foto: Ulrich Metz © Marina Abramović, VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Courtesy of the Marina Abramović Archives.

Die Kunsthalle Tübingen widmet der Performance-Künstlerin in ihrer aktuellen Ausstellung “JENES SELBST / UNSER SELBST” einen Raum der Selbsterfahrung und –erkundung, den Marina Abramović in den letzten Jahrzehnten zunehmend für sich zu durchdringen versucht. Die Ausstellung ist in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin und ihrem Studio entstanden. Denn was viele vielleicht nicht wissen: Bereits in den 1970er Jahren verschlug es Marina Abramović immer wieder ins beschauliche Tübingen, genauer gesagt in die Galerie Dacić, wo sie 1976 beispielsweise unter dem Titel “Freeing the Memory” 50 Minuten lang alle serbischen Worte laut aussprach, die ihr in den Sinn kamen. Ein Befreihungsakt für die Künstlerin. Vor diesem Hintergrund scheint es schlüssiger, warum die Wahl auf diesen ruhig gelegenen Ausstellungsort fiel.

Es ist ein Röhrenfernseher zu sehen, auf dem ein Video von der Performance-Künstlerin Marina Abramovic zu sehen ist. Sie ist gerade dabei, eine ganze Zwiebel zu essen, den Blick dabei nach oben gerichtet
Blick in die Ausstellung MARINA ABARAMOVIĆ. JENES SELBST / UNSER SELBST in der Kunsthalle Tübingen, Foto: Ulrich Metz © Marina Abramović, VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Courtesy of the Marina Abramović Archives.

Die Ausstellung bietet einen Überblick über das bisherige Schaffen von Marina Abramović, von ihren Anfängen, der gemeinsamen Schaffensperiode mit ihrem Lebens- und Performancepartner Ulay (1943 – 2020) von 1976 bis 1988 hin zu ihren aktuelleren Werken. Die früheren Arbeiten kamen oft ohne Requisiten aus und waren auf die Erweiterung der eigenen physischen und psychischen Grenzen ausgelegt, während ihre Performances nach der Trennung von Ulay und einem dreimonatigen Marsch entlang der chinesischen Mauer objektbezogener und ritueller wurden. Der Einfluss der Natur und die Selbstreflexion werden zu zentralen Elementen ihrer Arbeit. So finden in “Cleaning the Mirror III” (1995/2019) beispielsweise zuerst ein Spiegel in Anlehnung eine Metapher des Zen-Buddhismus sowie ethnologische Objekte des Totenkults Einzug in ihr Werk, zu denen sie ohne Berührung eine Verbindung aufzubauen scheint. In ihrer Performance “Confession” (2010) baut sie völlig regungslos, nur durch intensiven Blickkontakt, eine nonverbale Verbindung zu einem ihr gegenüber stehenden Esel auf. Alles, um in der Konzentration auf eine einzelne Tätigkeit am Ende sich selbst und der eigenen Gefühlswahrnehmung näherzukommen.

Es ist ein heller Ausstellungsraum zu sehen, Menschen stehen im Halbkreis um eine Markierung auf dem Boden herum und tragen Brillen, in der Raummitte wird ein Hologramm der Künstlerin Marina Abramovic projiziert
Marina Abramović, The Life, Mixed Reality Performance, 2019 © Marina Abramović, VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Courtesy of the Marina Abramović Archives and Tin Drum, Inc.

Es ist inszwischen kein großes Geheimnis mehr, dass wir in einer Welt leben, in der wir uns vor lauter Eindrücken und Einflüssen eigentlich kaum noch retten können. Die technischen Innovationen der letzten Jahrzehnte erweitern viele unserer Möglichkeiten, überschwämmen und konfrontieren uns gleichzeitig aber auch mit einer immensen Bilderflut, einem Gefühl des Dauer-Onlineseins und der ständigen Erreichbarkeit. Diesem gesellschaftlichen Miteinander von “Alles ist möglich” stellt Marina Abramović eine künstlerische Praxis entgegen, die genau das Gegenteil visualisiert – vollste Konzentration auf das Sein im Moment, auf eine einzelne Tätigkeit und die Abkehr vom wilden Treiben rundherum.

So sehr die Künstlerin selbst die Technik mit ihren negativen Einflüssen vielleicht auch ablehnen bzw. störend empfinden mag, so muss sie wohl aber einräumen, dass ihre Ausstellung in hohem Maße von ihr profitiert. Die Ausstellungsräume beherbergen nämlich ein ganz besonderes Werk, das bisher noch nie im musealen Kontext gezeigt wurde: die Mixed-Reality-Performance “The Life” (2019), die es den Besucher*innen ermöglicht, einem Hologramm der Künstlerin gegenüberzustehen, sich gemeinsam mit ihr durch den Raum zu bewegen und so der Künstlerin näherzukommen.

Große Videowand in einem Ausstellungsraum, die einen dunklen Himmel zeigt und eine Landschaft. Die Künstlerin Marina Abramovic liegt mit dem Rücken auf einem Gestell.
Blick in die Ausstellung MARINA ABARAMOVIĆ. JENES SELBST / UNSER SELBST in der Kunsthalle Tübingen, Foto: Ulrich Metz © Marina Abramović, VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Courtesy of the Marina Abramović Archives.

Marina Abramovićs Kunst ist nicht unbedingt immer schön anzusehen, unfassbar reduziert, mal ganz ruhig und mal verstörend laut. Sie lädt uns ein, an ihren Grenzerfahrungen teilzuhaben und bei der Betrachtung nicht nur über sie als Künstlerin, sondern gleichermaßen über uns als Betrachtende und unser eigenes Selbst, unseren Weg zum Seelenfrieden, nachzudenken. Auch nur so funktioniert ihre Arbeit – im Zusammenspiel und in Wechselwirkung mit uns, mit der Umgebung. Die Ausstellung “JENES SELBST / UNSER SELBST” ist ein spannender Exkurs in die Welt der Performancekunst, eine Möglichkeit zum Innehalten, zum Verweilen im Moment und ein Ort der Ruhe, an dem wir mit der Künstlerin in einen nonverbalen Austausch treten können. Sie offenbart, dass die Suche nach sich selbst ein nicht-endender Prozess ist, der ganz unterschiedliche Ausdrucksformen annehmen kann. Und Marina Abramovićs persönliche Auseinandersetzung stellt dabei ganz offensichtlich eine Extrem-Position dar, die uns immer wieder daran erinnert.

WANN: Die Ausstellung “JENES SELBST / UNSER SELBST” läuft noch bis zum 13. Februar 2022.
WO: Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, 72076 Tübingen.