Der dankbare Tote
Ein Studiobesuch bei Tina Braegger

12. September 2020 • Text von

Bunt, laut, schrill tanzen sie über die Leinwände. Marschieren mal mit Mustern ausgemalt, dann als leere Hülle in den Grenzen des Bildes. Es sind variierte Formen fröhlich aus der Bildfläche lächelnder Bären, die die Schweizer Künstlerin Tina Braegger überlebensgroß mit Pinsel und Farbe zum Leben erweckt. Pünktlich zum Berliner Gallery Weekend zeigt Braegger eine neue Serie des nicht unschuldigen Motivs in psychedelischen Farbgemengen.

Die Künstlerin Tina Braegger in ihrem Studio.

Tina Bragger, Courtesy the artist.

Der Sommer neigt sich dem Ende, als wir uns bei Tina Braegger im Atelier in Berlin-Schöneberg treffen. Es ist ein heller, lichtdurchfluteter Raum in dem die Schweizerin ihre Variationen von Bären auf Leinwände bringt. Gerade vollendet sie die letzten Werke, die sie im Rahmen ihrer Ausstellung „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ in der Galerie Société in einer Einzelausstellung ab Mitte September zeigen wird. Mit dem Titel verweist die 1985 in Luzern geborene Braegger, die vor acht Jahren nach Berlin kam, auf den gleichnamigen dritten Roman des deutschen Autors Christian Kracht. Der Titel des 2008 erschienenen Romans, der eine literarische Erfindung eines alternativen Verlaufs der Weltgeschichte präsentiert, berge nach Braegger ein heilvolles Versprechen, jedoch mit bedrohlichem Unterton. So paradiesisch es werden kann, die Situation kann umso schneller kippen. Das Leben hängt am roten Faden – dass sich die äußeren Umstände rapider ändern können, als uns lieb ist, hat sich spätestens in diesem Jahr einmal mehr bewahrheitet.

Zwei Gemälde der "Grateful Dead" Bären in beige und blau gehalten.

Tina Braegger, “I don’t know who needs to hear this right now”, 2020; “Y’all not ready to have this conversation”, 2020; Courtesy the artist and Société. Photo by Société.

Es sind genau diese Situationen, die noch Positives versprechen, aber sich bereits unheilvoll anbahnen, in die Braegger ihre tierischen Protagonisten hineinmarschieren, tanzen und sie kopfüber wahrnehmen lässt. Die Bären, breit lachend, mit aufgerissenem Mund, bringt die Künstlerin in neue Formen, schmückt sie mit Emojis, setzt sie in neue Kontexte, verzerrt sie, macht sie in Werken wie “I don’t know who needs to hear this right now” beinahe unkenntlich. So findet man die Bären zwischen Ekstase und Rausch, zwischen Aufbruch und Beharrlichkeit. Mittels der knalligen Farbe, dem Mischen von Öl und Glitzer auf Leinwand erreicht die Künstlerin eine Ästhetik, die an Werke der Pop-Art eines Andy Warhols oder der Appropriation Art von Elaine Sturtevant erinnern lassen. Letztere sollte Braegger nachhaltig prägen, als sie deren Technik der Appropriation zum ersten Mal mit 15 Jahren gemeinsam mit ihren Eltern bei einem Museumsbesuch entdeckte. “Dass es sich dabei eben nicht um ein weiteres Warhol-Piece handelte, grenzte für mein 15-Jähriges Bewusstsein an eine Revolution”, erzählt Braegger.

Ein Gemälde, das einen lila farbebene und einen orangenen Bären zeigt.

Tina Braegger, “Truth be told”, 2020, Courtesy the artist and Société. Photo by Société.

Wie nachhaltig der Ansatz Sturtevants prägend sein sollte für ihre eigene Kunst, mag ihr als Teenager vielleicht noch nicht bewusst gewesen sein. Aber die Frage nach Kopie und Original beschäftigt sie bis heute. Ähnlich wie Sturtevant appropriiert Braegger. Wer sich auskennt, weiß, dass es sich bei ihren Bären in teils halluzinierenden Zuständen nicht um die Variation irgendeines Tieres handelt. Das Motiv des marschierenden Bären zierte das Cover des 1965 erschienenen Live-Albums “History of the Grateful Dead Vol. 1” der kalifornischen Rockband “The Grateful Dead”. Bis heute wird es von Anhängern der Band genutzt, auf T-Shirts gedruckt, sogar Nike brachte eine mehrere tausend Euro teure limitierte Edition von Sneakern auf den Markt. Ein Umstand, der den Ursprungsgedanken des als Maskottchen dienenden Bären eindeutig kokettiert. Denn der “Grateful Dead Bear” steht sinnbildlich für die Rockband und eindeutig linkes politisches Gedankengut. Entstanden ist die marschierende bunte Formation der Bären als Referenz auf den Tontechniker und gleichzeitigen LSD-Dealer der Band. Die Gruppe deren Fans sich heute über ein weites Spektrum von Barack Obama, Nancy Pelosi bis hin zu Steve Bannon erstrecken, formierte sich Mitte der 1960er Jahre in der lokalen Musikszene San Franciscos und feierte erste Konzerte, die ebenso als öffentliche LSD-Partys bekannt waren.

Frontaufnahme von Tina Braegger

Portrait Tina Bragger, Courtesy the artist.

Das Motiv entdeckte Braegger 2011 zufällig auf einem Flyer und arbeitet seitdem mit dem Bären. Braegger interessiert die eigentliche Leere des Bären, die bis zu einem gewissen Sinne stellvertretend für die willkürliche Zuschreibung jedes Symboles zu seiner Bedeutung steht. Der Comicbär war nie animiert, hat keine Stimme, kein Alter und lässt sich keinem Geschlecht zuordnen.

Zwei Gemälde von den "The Grateful Dead" Bären

Tina Bragger, “She said it not me, 2020, oil on canvas”, 2020; “Just saying”, 2020; Courtesy the artist and Société. Photo by Société.

Braegger setzt die “Grateful Dead Bears” in Pop-Welten, mischt sie mit christlicher Ikonographie und der Mythenwelt der europäischen Antike. Sie lässt sie zwischen Himmel und Hölle schweben, Nietzsches Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen kommt einem bei ihren grandiosen Arbeiten wie “Truth be told” in den Sinn. So kann der „Grateful Dead Bear“ am Ende auch als Vermittler zwischen irdischer und Unterwelt gelesen werden.

WANN: Die Ausstellung von Tina Braegger “Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten” eröffnete anlässlich des Berliner Gallery Weekends am Mittwoch, den 9. September.
WO: Société, Wielandstraße 26, 10707 Berlin.

Weitere Artikel aus Berlin