Freigelegte Schichten
"Materializing" im NS-Dokumentationszentrum

22. November 2023 • Text von

Wie man Erinnerungen vor dem Verblassen bewahren kann, zeigt die Sonderausstellung “Materializing” im Münchner NS-Dokumentationszentrum. Die Ausstellung versammelt sieben Positionen zeitgenössischer polnischer Künstler*innen, die sich mit der “Shoah in Polen“ beschäftigen. Ein leider sehr aktuelles Thema.

Zuzanna Hertzberg, Mechitza: Individual and Collective Resistance of Women During the Shoah, 2019–2022, Courtesy of the artist, Foto: Zuzanna Hertzberg, Przyjaciele MSN.

Nach einer gewissen Zeit legen sich Schichten über das Vergangene, Erinnerungen verblassen, Orte verändern sich und Zeitzeugen sterben. Wie Sedimente bedecken Veränderungen und Verdrängungen die Geschichte, persönlich wie gesellschaftlich. Daher ist es nicht nur die Aufgabe von Historiker*innen, die Zusammenhänge zwischen kollektiver Erinnerung und individueller Geschichte zu bewahren. In der aktuellen Sonderausstellung Materializing” zeigt das NS-Dokumentationszentrum sieben zeitgenössische künstlerische Positionen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen gestalterischen Ansätzen mit den Erinnerungen und materiellen Spuren des Holocaust in Polen auseinandersetzen.

Elżbieta Janicka & Wojciech Wilczyk, Großes Ghetto. Blick von der Solidarności-Allee 64 in Richtung Südwesten – 15. April 2011, aus der Serie The Other City.

Geschichte kann wie eine Wunde sein, die nur schwer verheilt und tiefe Narben hinterlässt. In ihrer quasi-dokumentarischen Fotoserie “The other City (Inne Miasto)“ präsentieren Elżbieta Janicka und Wojciech Wilczyk ihren analytischen Blick auch die Innenstadt von Warschau. Entstanden zwischen 2011 und 2013, blicken sie von Hausdächern auf das Gebiet des Warschauer Ghettos, das 1943 von den Deutschen in Schutt und Asche gelegt und nach dem Krieg neu bebaut wurde. Die Bilder zeugen von einem öffentlichen jüdischen Leben, das komplett ausgelöscht und danach überschrieben wurde. In den Stadt-Bildern zeigen sich die historischen Überlagerungen unterschiedlicher Epochen, die Stadt selbst ist ein brüchiges Kaleidoskop und Produkt ihrer Geschichte.

Artur Żmijewski & Zofia Waślicka-Żmijewska, We’ve Been Looking in Ashes, 2021–2022, Courtesy of the artists.

Neben dieser eher analytischen Position reichen die im NS-Dokumentationszentrum gezeigten künstlerischen Strategien von sehr persönlichen und emotionalen Ansätzen bis zu recherchebasierten Installationen. Die Künstler*innen Zuzanna Hertzberg, Elżbieta Janicka & Wojciech Wilczyk, Paweł Kowalewski, Agnieszka Mastalerz, Natalia Romik, Wilhelm Sasnal und Artur Żmijewski & Zofia Waślicka-Żmijewska loten die materiellen und immateriellen Brüche und Lücken aus, die der Verlust der nahezu gesamten jüdischen Bevölkerung Polens erzeugt hat. Einen Fokus auf die oft vergessenen oder bagatellisierten heroischen Rollen von Frauen legt Zuzanna Hertzberg mit ihrer raumgreifenden Installation “Mechitza”. Die Arbeiten sind gleichzeitig Sichtbarmachung, Gedenken und Ausdruck von Trauer und Wut. Der Titel der Ausstellung soll auf die Konfrontation mit den wenigen materiellen Beweisen der in der Vergangenheit verübten Verbrechen und auf die Suche nach den Überbleibseln jener Leben, die nicht mehr gelebt werden können, verweisen.

Blick in die Ausstellung Materializing. Zeitgenössische Kunst und die Shoah in Polen, 2023, Paweł Kowalewski, Strength and Beauty. A Very Subjective History of Polish Mothers (Polnishe Mame), © NS-Dokumentationszentrum München, Foto: Connolly Weber Photography.

Wie schon in früheren Sonderausstellungen sind die für “Materializing“ zusammengestellten Arbeiten in die Dauerausstellung im NS-Dokumentationszentrum eingebettet. Die musealen Vitrinen und Wandtafeln, die Münchens NS-Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart erzählen, bleiben an ihren Plätzen. “Materializing“ will Lücken in der Erinnerung füllen und schafft es mit unterschiedlichen künstlerischen Techniken und Stilen eindringlich, dabei zu helfen, die Erinnerung vor dem Vergessen zu bewahren.

WANN: Die Ausstellung “Materializing. Zeitgenössische Kunst und die Shoah in Polen” ist noch bis zum 24. Februar 2024 zu sehen.
WO: NS-Dokumentationszentrum, Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München.

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