Memoriale Arbeit(en)
Tell me about yesterday tomorrow im NS-Dokumentationszentrum

7. Februar 2020 • Text von

Mit der Ausstellung Tell me about yesterday tomorrow verflechtet das NS-Dokumentationszentrum seine Dauerausstellung mit Werken von mehr als vierzig Künstler*innen und rekonfiguriert sie zu einem heterogenen Denkraum. Damit stellt es sich der Komplexität der gegenwärtigen Erinnerungskultur.

Annette Kelm: Travertinsäulen, Recyclingpark Neckartal, Winter, 2019, Courtesy the artist und KÖNIG Berlin/London.

Das NS-Dokumentationszentrum, das 2015 eröffnet wurde, versteht sich als „Lern- und Erinnerungsort“ und fungiert als ein bewegliches, sich kontinuierlich nach innen und außen (selbst-)reflektierendes Mahnmal. Sein Standort, in unmittelbarer Nähe zum Königsplatz und der ehemaligen Parteizentrale der NSDAP sowie die darin dokumentarisch sorgfältig aufgearbeitete Dauerausstellung über den Nationalsozialismus in München, festigt die Institution in seiner Grundbestimmung und ermöglicht ihr zusätzliche Freiräume, die sie über den festgelegten Bezugsrahmen hinausblicken lässt, wie es in Tell me about yesterday tomorrow passiert. Darin wurde nicht nur die formal unveränderte Dauerausstellung mit Arbeiten von internationalen Künstler*innen verwoben, sondern die gesamten Institution. Dadurch wird ein Gefüge geschaffen, das zwischen den künstlerischen Arbeiten, der wissenschaftlichen Aufarbeitung und der Verantwortung der Institution oszilliert, die Komplexität der Zeitlichkeit von Erinnerung und Trauma formuliert und dabei auch Themenfelder verhandelt die keinen direkten Bezug zum Holocaust haben. Konzeptuell wohnt der Dauerausstellung bereits die wichtige Leitfrage „Was hat das mit mir zu tun?“ inne und verdeutlicht ein grundlegendes Erfordernis der gegenwärtigen Erinnerungskultur, nämlich der Zuspruch ihrer Notwendigkeit.

Ydessa Hendeles: Der Adler Modelleisenbahn, Gebr. Märklin & Cie. GmbH, Göppingen, Germany, um 1935, 2019, Courtesy the artist.

Erinnerungskultur, ein erst in den 1990er Jahren aufkommender Begriff, ist hierzulande zu einer politischen, kulturellen und sozialen Verantwortung gewachsen, die auch zu großen Teilen Institutionen wie das NS-Dokumentationszentrum mittragen. Hier wird memoriale Arbeit nachvollziehbar und erfahrbar gemacht, die sich immer auch an den aktuellen politischen und öffentlichen Diskursen orientiert, darauf reagiert und aus ihnen neu erwächst. Gegenwärtig stehen wir vor der großen Frage, wie die Erinnerung des Holocaust weiterhin gelingen kann, wenn die letzten Zeitzeugen verstorben sind. Das formuliert die Ausstellung buchstäblich in ihrem Titel. Aber auch die Forderung der AfD, eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad herbeiführen zu wollen, wachsender Rassismus, der nicht nur mit den NSU-Morden deutlich wurde sowie alltäglicher Antisemitismus, der mit dem Anschlag in Halle eine neue Dimension erreicht hat, verlangen nach lebendigen Erinnerungsorten, die eine Perspektive ermöglichen, die weder der Gegenwart noch der Vergangenheit den Rücken zuwendet.

Cana Bilir-Meier: This Makes Me Predict The Past, 2019, Filmstill, Courtesy the artist.

Unter den vielen künstlerischen Arbeiten wird auch Emil Noldes „Meer und Himmel“ präsentiert. Nolde war bekennender Antisemit und Mitglied der NSDAP und wurde dennoch über lange Zeit als Opfer des Nationalsozialismus angesehen, denn viele seiner Arbeiten wurden in der Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Eine Debatte, ausgelöst durch eine Ausstellung des Künstlers im Hamburger Bahnhof in Berlin, führte dazu, dass Angela Merkel schließlich zwei Arbeiten des Künstlers aus dem Kanzleramt entfernen ließ. Werke werden immer häufiger in Hinblick auf die Biografie ihres Schöpfers beleuchtet und dahingehend gewertet. Das Abhängen erscheint im ersten Moment die stärkere politische Geste, verwehrt sich aber dem weitaus schwierigerem Weg eines verantwortungsvollen Umgangs. Deutschland gilt als das Land, das vorbildlich mit seiner Geschichte umgeht, doch erleben wir gegenwärtig besorgniserregende Missstände, was nicht nur in der Fotoserie der Künstlerin Paula Markert, die den Spuren der NSU Morden nachgeht nachvollziehbar wird, auch Cana Bilir-Meier macht mit der Arbeit „This Makes Me Predict The Past“, die sich mit dem Attentat am Olympia Einkaufszentrum auseinandersetzt, das erst drei Jahre danach als rassistisch motiviert benannt wurde, darauf aufmerksam.

Rosemarie Trockel: Frankfurter Engel, 1994
Courtesy the artist and Sprüth Magers, © Rosemarie Trockel – VG Bild-Kunst Bonn, 2019

Tell me about yesterday tomorrow konstruiert einen perspektivischen Denkraum, der sich nicht auf die einseitige Betrachtung der Vergangenheit begrenzt, sondern aufzeigt, wie aus dem Wissen und der Erfahrung der Gegenwart das Zurückliegende neu reflektiert und weitergedacht werden kann und welche Chancen darin auch für das Morgen erkennbar werden. Die im Eingangsbereich platzierte Replika des Frankfurter Engel von Rosemarie Trockel, der seit 1994 in der Frankfurter Innenstadt an die ermordeten Homosexuellen erinnert, schafft nicht nur Raum für eine bis in die 1980er Jahre nicht öffentlich anerkannte Opfergruppe des Nationalsozialismus, die Inschrift betont zudem die gegenwärtige Diskriminierung und Verfolgung von Homosexuellen. Willem de Rooij setzt sich in seiner Arbeit „Vorhaben zum Gedenken an Asoziale und Berufsverbrecher“ auch mit der Repräsentation von vergessenen oder nicht hinreichend wahrgenommenen Opfergruppen im Dritten Reich auseinander und erarbeitete ein eigens für die Ausstellung konzipiertes, sensibles Werk, das zwei weitere Gedenktafeln für das in Dachau stehende und vom Künstlers Nandor Gild entworfene Mahnmal von 1986 vorschlägt. Er denkt es der Vollständigkeit halber weiter. Beide Arbeiten formulieren auf unterschiedlich ästhetische Weise nicht nur den langwierigen Prozess der Vergangenheitsbewältigung und seiner Bewahrung, auch veranschaulichen sie, dass noch Jahrzehnte nach dem Holocaust blinde Flecken zu Tage kommen, die vielleicht auch erst aus einer späteren Perspektive erwachsen können.

Lawrence Abu Hamdan, Once Removed, 2019, Filmstill, Courtesy the artist.

„Wenn ein Mensch – und eine Gesellschaft – nur das zu erinnern imstande ist, was als Vergangenheit innerhalb der Bezugsrahmen einer jeweiligen Gegenwart rekonstruierbar ist, dann wird genau das vergessen, was in einer solchen Gegenwart keinen Bezugsrahmen mehr hat“, schrieb der Kulturwissenschaftler Jan Assman 1992 in seinem Werk „Das kulturelle Gedächtnis“ und führte darin Maurice Halbwachs Gedanken zum kollektiven Gedächtnis weiter. Jener stellte bereits 1925 fest, dass das Gedächtnis zwar nur dem Subjekt innewohnt, dieses aber auf ein kontinuierliches Zurückgreifen auf sein soziales Umfeld angewiesen ist und daraus gebildet wird. Die Notwendigkeit einer Erzählung und der Austausch darüber ist aber auch als ein menschliches Bedürfnis auszumachen, das im Mehrkanalvideo „Once Removed“ von Lawrence Abu-Hamdan zum Tragen kommt. Der Künstler selbst spricht darin mit dem Schriftsteller und Historiker Bassel Abi Chahine, der sich als Reinkarnation eines im libanesischen Bürgerkrieg gefallenen Soldaten, ansieht. Durch die Erzählung seiner Wiedergeburt schuf er einen Raum, der andere ermutigte mit ihm Erinnerungen an den Krieg in Form von Texten, Fotografien und Gegenständen zu teilen. So entstand ein persönliches und aufschlussreiches Archiv, in einem Land, das die Einzelheiten über den Konflikt nicht offenlegt.

Baseera Khan: Nike ID#1, 2018, Courtesy the artist und Simone Subal Gallery, New York.

Werke wie dieses, die sich thematisch vom Nationalsozialismus wegbewegen, lenken eine weiter gegriffene Betrachtung von gegenwärtiger Erinnerungskultur ein, die aktueller nicht sein könnte. Die globale Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus, der Aufarbeitung des Kolonialismus und gegenwärtigen Formen der Diskriminierung und Verfolgung dürfen dabei nicht ausgeblendet werden. Denn möchte man aus der gegenwärtigen Perspektive das Vergangene betrachten, um daraus das Morgen zu denken, sollte man auch die Gegenwart als solche abbilden. Gesellschaftliche Vielfalt und eine globale Betrachtung gehören zu ihr und dürfen auch im Diskurs der heutigen Erinnerungskultur nicht fehlen, so drückt es Tell me about yesterday tomorrow aus.

WANN: Noch zu sehen bis 31. August.
WO: NS-Dokumentationszentrum München, Max-MannheimerPlatz 1, 80333 München.

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