Dokumentationen kaputter Systeme
Hito Steyerl im Stedelijk Museum Amsterdam

21. April 2022 • Text von

Mit „I will survive“ widmet das Stedelijk Museum in Amsterdam der Künstlerin und Filmemacherin und Theoretikerin Hito Steyerl eine umfangreiche Retrospektive. Die Ausstellung ist inhaltlich und medial eine echte Wucht. Sie präsentiert Steyerl als Meisterin der dokumentarisch-künstlerischen Erzählkunst.

Hito Steyerl, Liquidity Inc., 2014, HD video file, single channel in architectural environment, 30 minutes, 15 seconds. Courtesy the artist, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin. © VG Bild-Kunst, Bonn, 2021. Film still © Hito Steyerl

Kapitalismus, Nationalismus, globale Machtstrukturen und Medienpolitiken – in den Arbeiten der Künstlerin, Kritikerin, Filmemacherin und Theoretikerin Hito Steyerl geht es um das Große und Ganze, um die Systeme dieser Welt. Ihre filmischen Installationen sind kreative Meisterstücke, basierend auf fundiert recherchierten Essayfilmen. Sie legen den Fokus auf die brisantesten Themen unserer Zeit und haben stets eine Frage als Ausgangspunkt: Wer hat Macht, wer nutzt sie für sich und wer wird von dieser Macht missbraucht? 

Seit 30 Jahren vollzieht Steyerl Dokumentarismen eines kaputten Systems, ohne dabei auf das künstlerisch so beliebte Mittel der Provokation zu setzen. Die Retrospektive „I will survive“ im Stedelijk Museum in Amsterdam umspannt das dreißigjährige Schaffen Steyerls und liefert den Besucher:innen die Möglichkeit, ein umfangreiches Bild von der Praxis der Künstlerin zu bekommen ebenso wie eine Entwicklung im Werk nachzuvollziehen.

Installation view Hito Steyerl. I Will Survive, 2022, Stedelijk Museum Amsterdam. Hito Steyerl, Hell Yeah We Fuck Die, 2016 and Robots Today, 2018. Courtesy the artist, Esther Schipper, Berlin and Andrew Kreps Gallery, New York. Photo: Peter Tijhuis. © Hito Steyerl Steyerl

„I will survive“ ist eine aufwendig gestaltete Schau, in der jede Arbeit für sich wirkt und doch merkbar in einem größeren Zusammenhang steht. Die mehrteilige Installation „Hell Yeah We Fuck Die“ (2016) ist die erste Arbeit, der Besucher:innen auf ihrem Weg durch die Ausstellung begegnen. Nicht nur wegen ihres Titels, der wie eine negative Prophezeiung auf den Titel der Ausstellung „I will survive“ anmutet, sondern auch in Form des Ausstellungsdesigns ist die Arbeit eine Vorausschau auf das, was in den vielen weiteren Räumen folgt. „Hell Yeah We Fuck Die“ (2016) erstreckt sich über den gesamten ersten Raum. Das Installationsdesign besteht aus einem Netz von metallenen Rohren und in Beton gegossenen Schriftzügen des Ausstellungstitels wie anderer Ausrufe. Das metallene Netz wiederholt sich auch in anderen Arbeiten und verweist auf die Vernetzungsstrukturen, die ein zentrales Thema in Steyerls Arbeiten sind – sowohl formal als auch inhaltlich. 

„Hell Yeah We Fuck Die“ dokumentiert auf mehreren Bildschirmen das Training von Robotern, die Menschen in Katstrophengebieten retten sollen. Ganz nach der Annahme „Keine Rettung ohne Angriff“ wird der Roboter in den Videos geschlagen und getreten und so für den Ernstfall trainiert. Auf einem anderen Screen folgt Hito Steyerl den Spuren des Erfinders Al-Dschazarī. Er entwarf bereits im 13. Jahrhundert einen Roboter, der die Flöte spielen konnte. Al-Dschazarīs Geburtsort Diyarbakır wurde später zum Ort der Auseinandersetzung zwischen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der türkischen Regierung – und damit zu einem Ort, in dem die trainierten Roboter aus „Hell Yeah We Fuck Die“ hätten Anwendung finden können. 

Installation view Hito Steyerl. I Will Survive, 2022, Stedelijk Museum Amsterdam. Hito Steyerl, Factory of the Sun, 2015. Courtesy the artist, Esther Schipper, Berlin and Andrew Kreps Gallery, New York. Photo: Peter Tijhuis. © Hito Steyerl

Die multimedialen Installationen Hito Steyerls, in denen Bild, Sprache, Musik, Ton und der Einsatz von Licht und Projektion zu einem großen Ganzen verschmelzen, bewegen sich meist irgendwo zwischen Fiktion und Realität. Die Besucher:innen finden ihren Platz auf den verschiedensten Sitzgelegenheiten – vom Oma-Sessel bis zu futuristischen Podesten – und dürfen erstaunt sein, ob all des unglaublich verstrickten Mists, der in den Arbeiten der Künstlerin offenbar wird. 

Mit Spannung zwischen Fiktion und Realität spielt auch die Arbeit „Factory of the Sun“ in überzeugender Weise, die 2015 auf der Biennale in Venedig Premiere feierte. In der Ästhetik von Computerspielen gestaltet, behauptet die Künstlerin darin wiederholt: „This is not a game. This is reality“. Die Zuschauer:innen schauen dem Spektakel auf der Projektionswand, auf Strandliegen sitzend und in einer mit Laserstrahlen gezogenen Matrix zu. So werden sie Teil der Ästhetik des Spiels und haben dennoch nicht den Joystick in der Hand. Die Machtlosigkeit, die in der Rezeption steckt, wird auch im Video zum Thema, wenn es heißt: „You will not be able to play this game. It will play you!“ 

Immer wieder sind es einzelne Figuren oder Symbole, deren Geschichte zum Aufhänger für die ganz große Erzählung werden. Das kann wie in „Hell Yeah We Fuck Die“ der kurdische Erfinder Al-Dschazarī sein, der als zentrale Figur an der Schnittstelle der Geschichte der Technologie ebenso wie des modernen Umgangs mit Auseinandersetzungen in Konfliktregionen steht. Das kann auch das Modelabel Balenciaga sein, das in „Mission Accomplished: Belanciege“ (2019) zum Symbol für die Folgen der flächendeckenden Privatisierung nach Zusammenbruch der Sowjetunion und einem noch viel größeren System der Ausbeutung wird. Oder der Bau des Nationalmuseums in Damaskus, in Syrien, das in „Duty Free Art“ (2013) zu einem Beispiel für das Museum als Institution Kunst wird, die zentraler Akteur ist in einer Schlacht zwischen Geld und Macht auf der einen Seite und Moral und Gleichheit auf der anderen.

Installation view Hito Steyerl. I Will Survive, 2022, Stedelijk Museum Amsterdam. Giorgi Gago Gagoshidze, Hito Steyerl, Miloš Trakilović, MISSION ACCOMPLISHED: BELANCIEGE, 2019. Courtesy the artists, Esther Schipper, Berlin and Andrew Kreps Gallery, New York. Photo: Peter Tijhuis. © Hito Steyerl

Hito Steyerl entwickelt ihre künstlerischen Aussagen meist aus einer einzelnen Geschichte oder Figur heraus und stellt darüber größere Zusammenhänge her. Diese Erzählweise erstreckt sich über ihr gesamtes Schaffen hinweg. Die Retrospektive in Amsterdam mündet räumlich in Steyerls erster Dokumentation in Langfassung mit dem Titel „Die leere Mitte“ (1998). Sie entstand kurz nach ihrem Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Anhand der Geschichte der Bebauung von Berlins Mitte sowie von Stimmen von Einwander:innen und Streikenden erzählt Steyerl die Kolonialgeschichte des Deutschen Reiches und des späteren Deutschlands nach. Deren Verzweigungen reichen mitten hinein in die Nazi-Geschichte und die der Kapitalisierung Deutschlands und Berlins durch Unternehmen wie Daimler Benz.

Es ist der Weg zurück zu den Anfängen von Steyerls Schaffen, den die Retrospektive „I will survive“ möglich macht. Dieser verdeutlicht: Die Künstlerin bleibt ihrer künstlerischen Strategie treu. Zwar werden ihre Arbeiten über die Zeit hinweg mehrdimensionaler und ihre Installationen immersiver und aufwendiger, Reales wird in der Darstellung digitaler –doch die Form des Erzählens ist dieselbe. Sie ist es, die die Kritik Hito Steylers zusammen mit der ihnen zugrundeliegenden, intensiven Recherche besonders stark und einen Besuch in dieser Ausstellung extrem wertvoll macht.

Installation view Hito Steyerl. I Will Survive, 2022, Stedelijk Museum Amsterdam. Hito Steyerl, Power Plants, 2019. Courtesy the artist, Esther Schipper, Berlin en Andrew Kreps Gallery, New York. Photo: Peter Tijhuis. © Hito Steyerl

Steyerls frühe dokumentarische Arbeit, „Die leere Mitte“, endet mit einem Satz des Journalisten und Philosophen Siegfried Kracauer: „Es gibt immer Löcher in der Wand, durch die wir entweichen können und das Unwahrscheinliche eintreten kann“. Es sind diese Löcher, durch die Hito Steyerl die Rezipient:innen ihrer Werke blicken lässt – und die bei all den negativen Zusammenhängen, die Steyerl spinnt, auch den nötigen Raum für die Hoffnung auf ein positives Ende lassen.

WANN: Die Ausstellung „I will survive“ läuft noch bis Sonntag, den 12. Juni.
WO: Stedelijk Museum, Museumplein 10, 1071 DJ Amsterdam, Niederlande. 

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