Gegen die Gesetze der Natur
Die Newchild Gallery zeigt Tesfaye Urgessa

19. August 2021 • Text von

Er sieht Malerei als Reflexion des Lebens an. In seinen Werken verbindet der aus Äthiopien stammende Tesfaye Urgessa Einflüsse aus Politik, Kunstgeschichte und Gesellschaft. Seine momentan in der Newchild Gallery in Antwerpen ausgestellten Arbeiten begeistern durch ihren Detailreichtum und ihre Vielschichtigkeit. Anlässlich der bis Ende August dauernden Ausstellung “Sleepy Baby Bird” sprach gallerytalk.net mit Tesfaye über Naturgesetze und darüber, wieso seine Arbeiten schon in den Uffizien gezeigt wurden.

Blick in die New Child Gallery mit Werken von Tesfaye Urgessa
Tesfaye Urgessa, “Sleepy Baby Bird”, Installation shot, Newchild Gallery, Antwerpen, 2021, courtesy of Newchild Gallery/Jan Liégeois.

gallerytalk.net: Sieht man deine großformatigen Malereien wie “Young Fairies 3”, kommen einem allerhand kunsthistorische Referenzen in den Sinn – Max Beckmann, Otto Dix – und in ihrer sehr fleischigen Erscheinung ähneln deine Figuren jenen aus den Bildern von Francis Bacon. Sind das auch tatsächlich Inspirationen für dich?
Tesfaye Urgessa: Immer wieder höre ich, dass meine Arbeiten denen von Max Beckmann oder Maria Lassnig ähneln. Gerade die vielen nackten Figuren erinnern wohl an die Malerei Lassnigs. Allerdings ist für mich die wichtigste Inspirationsquelle die Kunst von Lucian Freud. Ich habe mich lange mit Lucian Freud und auch Caravaggio beschäftigt. Meine Arbeit kann man als eine Mischung aus den Einflüssen der beiden ansehen. Die Intensität der Figuren von Lucian Freud mag ich sehr gern. Du fühlst den Raum, die Schwere und den Körper. Lucian Freud arbeitete sehr realitätsgetreu. Ich liebe jedoch die Freiheit, die du beim Malen hast. Alles zu ändern, wie es dir gefällt. Caravaggio hat ja oft die Körperteile seiner Figuren im Schatten versteckt. Das gefällt mir sehr gut und inspiriert mich. Bei meinen Figuren fehlen ja auch oftmals Körperteile. Dass teilweise eine Ähnlichkeit zu Arbeiten von Francis Bacon besteht, war mehr Zufall, das hat seinen eigenen Weg gehabt.

Wurde es denn an der Akademie für gutgeheißen, dass du dich an klassischen Vorbildern wie Caravaggio oder eben Freud orientiert hast? Ich habe manchmal das Gefühl, dass an Akademien eher das Experimentelle gefördert wird.
Heutzutage ist es ein bisschen schwierig. Du musst als Maler die Basics wissen, bevor du experimentieren kannst: die Anatomie, Komposition, Farbenlehre. Darauf kannst du dann erst aufbauen. In Äthiopien an der Kunstakademie habe ich einen sehr starken akademischen Background mitbekommen. An der Akademie in Stuttgart, wo ich im Anschluss studierte, hatte ich dann absolut gestalterischen Freiraum. Die Kombination aus beidem gefällt mir nun sehr gut.

Ein großes figuratives Gemälde vor einer grauen Wand.
Tesfaye Urgessa, “Young Fairies 3”, “Sleepy Baby Bird”, Newchild Gallery, Antwerpen, 2021, courtesy of Newchild Gallery/Jan Liégeois.

Diese Experimentierfreudigkeit ist deutlich in deiner Malerei zu erkennen. Die in Antwerpen ausgestellten Werke wie “Young Fairies 3” sind von einem Detailreichtum geprägt, der mir sehr gefällt und an kubistische Malerei erinnert – eine Kiste Schuhe, aufgeschlagene Zeitungen, sowie einzelne Körperteile, die in der Bildfläche angeordnet sind. Spielst du mit der Auflösung der Gegenstände in der Bildfläche oder der Fragmentierung der Körper?
Mir gefällt dieser Schaufenster-Effekt der Bilder sehr gut. Meine Figuren sind nebeneinander angeordnet, wie eben in einem Schaufenster. Alles existiert nebeneinander. Die Regeln der Natur in meine Bilder zu bringen hat mich eher gelangweilt. Schwerkraft ist ein Naturgesetz – aber muss sie zwangsläufig in meinen Werken erscheinen? Wenn ich mitten auf meine Leinwand eine Flasche male, dann kann sie weder runterfallen noch kaputtgehen. Diese Denkweise hat sehr viel für mich verändert. Ich male auch nicht jeder meiner Figuren zwei Hände, nur weil jeder Mensch normalerweise zwei Hände hat.

In der Pressemitteilung zu deiner aktuellen Ausstellung “Sleepy Baby Bird” wirst du wie folgt zitiert: “I want to create a compelling interaction between the viewer and the bodies in my works, turning the viewer into an invader.” Indem du deine Protagonisten in ihrer Fleischlichkeit so auflöst, wird man tatsächlich zu einem “Invader”. Welche Themen möchtest du dabei offenlegen?
Viele Leute kommen zu mir und sagen, “Tesfaye, du malst über dies oder jenes, über Rassismus oder Sozialkritik” – aber das ist nicht, was ich mache. Ich stelle mich nicht vor die Leinwand und nehme mir vor, heute über Rassismus zu malen. Einzelne Ereignisse, die passiert sind, initiierten am Ende meine Malerei. Ich lenke das Bild nicht hin zu den Themen, sondern wenn ein Ereignis passiert, das mich berührt, dann findet es irgendwann Widerhall in meinen Bildern.

Ein Gemälde von Tesfaye Urgessa
Tesfaye Urgessa, “VUPs 14 (Young Fairies)”, “Sleepy Baby Bird”, Newchild Gallery, Antwerpen, 2021, courtesy of Newchild Gallery/Jan Liégeois.

In der schon genannten Serie “VUPs” (very unimportant persons) gehst du auf die Ermordung prominenter Menschenrechtsverteidiger ein. Aus deiner Sicht sind viele dieser vorsätzlichen Erschießungen das Ergebnis eines Systems, das auf “Angst und Ignoranz” beruht. Kannst du darüber mehr erzählen?
Ich habe den Film “Selma” über Martin Luther King gesehen, der wirklich beeindruckend ist. Danach habe ich mir die Frage gestellt, wie es überhaupt sein kann, dass ein Mensch einen anderen ermordet. Oder entscheidet, dass der andere Mensch nicht mehr existieren darf. Dazu wollte ich mehr wissen und habe angefangen zu googeln. Es war wie eine Obsession. Nach sechs Monaten Arbeit kamen immer wieder neue Eindrücke, die ich dann in der Serie verarbeitet habe. Viel wichtiger ist mir jedoch, dass die Leute meine Bilder unvoreingenommen ansehen. Leute wollen meistens eine bestimmte Geschichte zu einem Bild hören, aber es geht darum, das Bild auf sich wirken zu lassen. Ich möchte, dass die Leute sich Fragen stellen und einfach betrachten und nicht von Bildinhalten gesteuert werden, die sie im Vorhinein kennen.

Dann geht es dir nicht darum eine kohärente Geschichte in deinen Arbeiten zu erzählen?
Viele Leute sehen ein Bild als ein Buch an. Mit einem Anfang und einem Ende und dazwischen gibt es einen kohärenten Ablauf. Aber ein Bild ist etwas anderes. Das ist mehr wie ein Keller, in dem verschiedene Informationen seit Jahren gespeichert wurden. Die haben zueinander aber nicht unbedingt eine Kohärenz. Die Dinge müssen auf einer Leinwand koexistieren. Das ist mir sehr wichtig.

Schwarz-weiß Potrait von Tesfaye Urgessa
Portrait Tesfaye Urgessa courtesy the artist.

Wenn du sagst, dass du teilweise für ein Jahr an einem Bild arbeitest, entwickelst du parallel verschiedene Serien? Und verarbeitest du in einer Serie verschiedene Thematiken?
Ja, sehr oft. Mir geht es ja auch nicht jeden Tag gleich. Ich kann nicht an einem Bild mit einer bestimmten Emotion, die ich gestern hatte, am nächsten Tag weiterarbeiten. Das geht gar nicht. Wenn ich dann eine bestimmte Idee habe, dann sehe ich auf meine Leinwände und entscheide dann, zu welchem Bild diese Idee am Ende passt. Deshalb sind sie so fragmentiert.

Würdest du deine Malerei als politisch bezeichnen?
Ja natürlich. Das kann alles sein. Malerei ist wie eine Reflexion vom Leben. Wir werden von so vielen verschiedenen Dingen beeinflusst. Das heißt, dass das Bild auch automatisch beeinflusst wird.

Zwei Malereien von Tesfaye Urgessa
Tesfaye Urgessa, “Sleepy Baby Bird”, Installation shot, Newchild Gallery, Antwerpen, 2021, courtesy of Newchild Gallery/Jan Liégeois.

Teilweise erinnern die Haltungen deiner Figuren an christliche Ikonographie, wie die Darstellungen von Heiligen in der Kirche. Spielt das in deinem Werk eine Rolle?
Ich habe als junger Künstler sehr viel christliche Ikonographie gemalt. Zeichnen und Malen habe ich damals von meinem Vater gelernt. Es war vollkommen normal für mich, Heilige zu zeichnen. Das habe ich gemacht bis ich an der Kunstakademie in Äthiopien angenommen wurde. Nachdem ich nach Deutschland kam, habe ich diese Richtung nicht mehr verfolgt, aber ich merke, wie diese stilistischen Gegebenheiten immer wieder in meinem Werk auftauchen. Diese steife Haltung der Figuren, die den Fresken in Kirchen ähnelt.

Apropos Kirchen. Die Uffizien sind ja fast eine heilige Stätte, zumindest der Kunstgeschichte. Ich liebe dieses Museum! 2018 wurde dir als einer von wenigen lebenden Künstlern eine Einzelausstellung in der Gallerie Degli Uffizi in Florenz zuteil. Einige Werke wurden später erworben und in die ständige Sammlung des Museums aufgenommen. Wie fühlt es sich an als zeitgenössischer Maler seine Werke neben kunsthistorischen Größen wie Michelangelo, Tizian oder da Vinci hängen zu sehen?
Die größte Überraschung war, als Eike Schmidt, der Direktor der Uffizien, mich direkt angeschrieben hat. In dem Moment habe ich geglaubt, dass das grade nicht passiert. Er hatte mir eine sehr nette Email geschrieben, dass er meine Arbeit seit einiger Zeit beobachtet und ob er mich noch am gleichen Tag im Atelier besuchen könne. Ich habe echt kurz gezweifelt – der Direktor der Uffizien kommt dich so spontan besuchen (lacht)? Aber tatsächlich. Das war ein irres Gefühl! Danach war er fünfmal zu Besuch, auch um die Katalogtexte zu schreiben und die Ausstellung vorzubereiten.

Ein Gemälde in rosa Tönen
Tesfaye Urgessa, “Untitled”, “Sleepy Baby Bird”, Newchild Gallery, Antwerpen, 2021, courtesy of Newchild Gallery/Jan Liégeois.

Das ist wirklich cool! Die Ausstellung fand dann im Palazzo Pitti statt?
Ja genau. Das war toll. Die letzte Malereiausstellung war vor 20 Jahren dort mit Arbeiten von Baselitz und danach von Neo Rauch.

Und wie sehen zukünftige Projekte aus?
Gerade habe ich eine Ausstellung in der Saatchi Gallery in London und momentan sind zwei, drei Ausstellungen für nächstes Jahr geplant. Aber erst mal fliege ich jetzt nach Äthiopien für zwei Wochen, um meine Familie zu besuchen.

Wie ist denn die Kunstszene in Addis-Abeba?
Addis-Abeba ist ziemlich cool. Die Kunstszene ist relativ stark dort. Es ist die Hauptstadt Äthiopiens, da passiert einfach viel und wenn es Ausstellungen gibt, dann sind sie sehenswert. Es gibt zwar nicht zahlreiche Ausstellungen, aber die dortigen Galerien zeigen wirklich gute Künstler! Es lohnt sich!

WANN: Die Ausstellung “Sleepy Baby Bird” ist noch bis Samstag, den 28. August, zu besichtigen.
WO: Newchild Gallery, Geuzenstraat 16, 2000 Antwerpen.

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