Ein Atlas von Erinnerungen Chloë Saï Breil-Dupont in der Newchild Gallery
14. Oktober 2021 • Text von Teresa Hantke
Es sind konkrete Hinweise oder verschlüsselte Informationen, die sie in ihren großformatigen Porträts wiedergibt. Die französische Künstlerin Chloë Saï Breil-Dupont schafft in ihren Gemälden intime Bildwelten, die einen Fokus auf das Erbe der Renaissance, auf den wechselseitigen Blick in der Kunstgeschichte sowie die Präsenz von Körpern legen. Aus Anlass ihrer Teilhabe in der Ausstellung “FLESH” in der Newchild Gallery in Antwerpen, sprach gallerytalk.net mit Breil-Dupont über den Atlas Aby Warburgs, Alchemie und warum sie zuletzt weinen musste, als ihre Bilder ihr Atelier verließen.
Es geht um Körper, Intimität, Blicke – teils auch voyeuristische Blicke auf den nackten Körper, auf die Haut, auf das Fleisch, die nackte Existenz anderer Menschen. Sehr gekonnt spannt die New Child Gallery in Antwerpen einen kunsthistorischen Rahmen, der das Sujet des “Blickes” aufgreift und dabei Werke Alter Meister wie Rembrandt und Fragonard mit Gemälden zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen wie Shona McAndrews oder Christopher Hartmann kombiniert. Eine Werkschau, die durch ihre Kuration begeistert und verdeutlicht, wie menschliche Begierde nach körperlicher Nähe, nach Auseinandersetzung mit einem menschlichen Gegenüber über Jahrhunderte dauert und immer wieder neuen Spielraum für Interpretationen bietet. Aus Anlass ihrer Teilhabe an der Ausstellung “FLESH” traf gallerytalk.net die französische Künstlerin Chloë Saï Breil-Dupont per Zoom zum Gespräch.
gallerytalk.net: Chloë Saï, die dargestellten Personen auf deinen Bildern umklammern in ihren Händen kleine Bilder – auf diesen sind verschiedene Motive wie Landschaftsmalereien, Porträts oder antike Skulpturen zu sehen. Sind das die Erinnerungen der abgebildeten Menschen oder um was handelt es sich dabei?
Chloë Saï Breil-Dupont: Diese Miniaturabbildungen sind kleine hölzerne Objekte, die ich Kassetten nenne. Es sind die Bilder, die uns umgeben. Das können Abbildungen sein, die ich in Archiven, Büchern oder im Alltag oder auch auf Instagram wiederfinde. Sie sind eine Art Atlas meiner Erinnerungen und Einflüsse oder Erinnerungen von Menschen, die ich gut kenne. Diese Kassetten kann man als eine Art gedanklichen Schatz ansehen. Sie beinhalten die Worte, die wir nutzen, Gesten, Gedanken – schlicht alles, was uns ausmacht.
Wer sind die Menschen auf deinen Gemälden – sind das nur Freunde oder auch fremde Personen?
Ich male nur meine Freunde oder Leute, die mir nahestehen. So beginnt auch die Idee des Malens, wenn wir darüber diskutieren, was uns ausmacht; welche Art von Gesellschaft wir entstehen sehen wollen, welches die Bilder sind, die uns prägen und die wir gerne sehen. Außerdem stellen meine Gemälde einen Ort der Sicherheit für mich dar. Es ist ein Ort, an dem ich meine Freunde um mich haben kann. Ich verbringe ja beinahe zehn Monate damit, sie zu malen. Das letzte Mal, als meine Bilder für die Ausstellungen bei der Newchild Gallery beispielsweise das Atelier verlassen hatten, kamen mir die Tränen. Es war echt seltsam, seine Freunde gehen zu sehen (lacht).
Das Fabrizieren deiner Kassetten steht eng in Verbindung mit dem Bilderatlas “Mnemosyn” des Kunsthistorikers Aby Warburg. Kannst du darüber erzählen?
Die Idee des Archivierens der einzelnen Bilder ist eng mit Aby Warburgs (Aby Moritz Warburg war ein deutsch-jüdischer Kunsthistoriker, der die Ikonografie als eigenständige Disziplin der Kunstwissenschaft etablierte und bekannt ist für den Bilderatlas Mnemosyne, in dem er mithilfe kleiner Bilder das Nachleben der Antike in der europäischen Kultur veranschaulichte; Anm. d. Red.) ikonologischer Praxis verbunden. Ich extrahiere Bilder, die ich auf die hölzernen “Kassetten” male. Als ich 20 Jahre alt war, habe ich im Museo Reina Sofía die Ausstellung gesehen, die Georges Didi-Hubermann über Warburgs Atlas gemacht hatte. Das hat mich nachhaltig inspiriert! Ähnlich wie bei Warburg, ist es mir ein Anliegen zu zeigen, dass alles älter ist als wir und trotzdem weiterhin Einfluss auf uns hat. Das ist etwas, das mich seit langem berührt und meine Arbeit ausmacht.
Die meisten deiner Abbildungen auf den Kassetten, wie in dem Gemälde, “La Main Rouge, Portrait d’Alberto”, das unter anderem Teil der Ausstellung “FLESH” ist, zeigen eine Variation an Bildern, wie eine antike Büste, eine Hand, die eine Zigarette hält, sowie einen Flügel einer Fledermaus. Können dies auch fiktive Bilder sein oder entstammen sie alle der Realität?
Jedes einzelne Bild – und das mag ich daran so sehr – verweist auf etwas: wie ein Schatz oder ein Phantom. Man kann es auch ohne Erklärung verstehen; aber wenn man einen gewissen Hinweis hat, öffnet sich plötzlich die Bildinformation. Zum Beispiel eine Hand, die ein Glas hält. Dies ist ein Ausschnitt aus dem Film “Victor/Victoria”. Eine Komödie von Blake Edwards aus dem Jahr 1982, indem es um eine Opernsängerin geht, die sich als Mann verkleidet.
Die Vielschichtigkeit in deinen Gemälden finde ich sehr interessant. In dem Bild “Horn of plenty, Portrait de Laura”, das auch momentan in der Newchild Gallery ausgestellt ist, gibt es nicht nur die Anzahl an Kassetten, die Laura in den Händen hält, auch das Gemälde an sich ist dreigeteilt in einen Rahmen, dann der Raum, in dem sie sitzt und dahinter noch ein Vorhang. Das nimmt den Gedanken der Renaissance auf, den Bildraum als Fenster zur Welt zu gestalten. Hat das auch einen Einfluss auf dich?
Ich bin ein großer Fan der Kunst der Renaissance. In der Renaissance gab es unglaubliche technische Fortschritte und Entdeckungen. Trotzdem hatte diese Epoche ihren Anteil an furchtbaren Ideologien. Heute scrollen wir den ganzen Tag über Dinge und Welten, aber die Fenster, die sich uns öffnen, sind lediglich virtuelle Welten. Gleichzeitig sind wir im Hier und Jetzt und wissen, dass wir in der realen Welt etwas zu tun haben. Der Unterschied zu Renaissance-Porträts besteht darin, dass ich einer Landschaft im Hintergrund keine Tiefe gebe – es ist immer eine Art Theater mit Objekten. In Verbindung zur Idee der Renaissance steht jedoch die Alchemie. Seit neuestem male ich den Hintergrund meiner Bilder mit einer schwarzen Paste aus, die ich “Fledermausfarbe” nenne und selber herstelle. Es verleiht dem Hintergrund eine Dichte, wohingegen der Teil, der mit dem Pinsel gemalt ist, sehr flach erscheint.
Apropos Fledermaus, die befindet sich ja auch auf einer der Kassetten, die Alberto in seiner roten Hand trägt – Hände scheinen dich zu faszinieren. Mich erinnert die linke Hand Albertos mit der er auf seine Kehle weist an einen Segensgestus. Oder was bedeutet es?
In der Zeichensprache bedeutet es “blockiert” oder “erstarrt”. Ich habe es gemalt, weil wir über Gebärdensprache gesprochen hatten und Alberto, der Bildhauer ist, die Gebärdensprache beherrscht.
Menschen, die beispielsweise die Gebärdensprache beherrschen, verstehen deine Bilder dann in einer ganz anderen Form?
Ich hoffe es! Genau darum geht es mir, es gibt viele verschiedene Blickwinkel auf die Gemälde. Mir gefällt es, kleine Dinge einzubauen, die nur von wenigen Leuten gesehen werden können. Es sind hinzugefügte Elemente, die jeder verstehen kann, und andere, die viel intimer sind und nur von einer Person verstanden werden können. Die sehen dann den Unterschied. Es ist ein bisschen wie ein Lied. Ein Lied, das nur für die eine Person geschrieben wurde, wie es oft der Fall ist (lacht).
WANN: Die Ausstellung “FLESH” ist noch bis Samstag, den 27. November, zu sehen.
WO: Newchild Gallery, Geuzenstraat 16, 2000 Antwerpen.