Dekonstruierte Kleidung
Cudelice Brazelton IV bei Barbara Weiss

11. Oktober 2021 • Text von

Cudelice Brazelton IV geht in seiner Einzelausstellung „Starter Kit“ bei Barbara Weiss der Bedeutung von Kleidung nach, die alles andere als trivial ist. Er reißt Materialien aus ihren Kontexten und fügt sie in Neue hinein. Und zeigt damit indirekt auch, warum es nicht schick ist, wenn Givenchy eine Kette in Form von Henkersschlinge herausbringt. 

Installationsansicht, Cudelice Brazelton IV,„Starter Kit“, Galerie Barbara Weiss. Courtesy of the artist and Galerie Barbara Weiss, Berlin

Was bedeutet es, wenn ein schwarzes Model in einer öffentlichen Show von einem der global bekanntesten Modelabels eine Kette um den Hals trägt, die zweifellos eine Henkersschlinge imitiert? Die Kette gibt es in zwei Versionen: Gold und Silber. Das Schwarze Model trägt die goldene Variante – passend dazu Cornrows. Cornrows dienten zur Zeit der Sklaverei unter anderem als Kartensysteme, indem durch unterschiedliche Flechtmuster Wege, z.B. auf Feldern, nachgezeichnet wurden, die der Flucht verhelfen sollten. Letzte Woche während der Fashion Week in Paris entschied sich Givenchy dennoch für die Kombination aus Cornrows und Henkersschlingen-Kette: ein bedeutungsbesetztes Artefakt der Sklaverei, das die Potentialität innehatte, zu Freiheit in einem Unrechtssystem zu führen und das Objekt mit dem diese Freiheit nicht nur entrissen wurde, sondern auch auf grausame Weise für immer beendet wurde. 

Kleidung besteht also nicht einfach aus bedeutungslosen Stofffetzen, die sich oberflächlich umgehängt werden. Auch wenn sie (körperliche) Oberflächen verhüllen dringen sie mit ihrer Semantik eigentlich in diese ein. Cudelice Brazelton IV geht in seiner ersten Einzelausstellung „Starter Kit“ bei Barbara Weiss der Frage nach, wie Objekte – und solche aus denen später Kleidung wird – (kulturelle) Identifikation schaffen, reproduzieren und recyceln. 

Cudelice Brazelton, „Nub“, 2021. Courtesy of the artist and Galerie Barbara Weiss, Berlin

Der in Dallas geborene Künstler stellt in dem sterilen, kleinen Galerieraum drei Arbeiten aus, die aus diversen Materialien und Medien bestehen. Eigentlich zeigt „Starter Kit“ vier Arbeiten, jedoch befindet sich die erste Arbeit „Nub“ (2021) nicht zusammen innerhalb des Raumes mit den anderen Werken, sondern wurde in die halb geöffnete, weiße Schiebetür, die zu den restlichen Arbeiten führt, eingearbeitet. „Nub“ ist ein kleiner 1,7 x 1,7 cm großer extrahierter Fernbedienungsknopf auf dem in weißen, ungeschmückten Großbuchstaben „OK“ steht. Scheinbar deplatziert und aus seinem üblichen Kontext gerissen, sitzt der Knopf inmitten der Tür. Ein Screen, der die Funktion des Knopfes aktivieren würde – wobei der Knopf ja auch gleichzeitig den Screen aktivieren würde, hier also eine gegenseitige Abhängigkeit bestünde – ist weit und breit nicht zu sehen. 

Installationsansicht, Cudelice Brazelton IV,„Starter Kit“, Galerie Barbara Weiss. Courtesy of the artist and Galerie Barbara Weiss, Berlin

Die Deplatzierung des Knopfes ähnelt Brazelton IVs Arbeitsweise mit Textilien, die er mit anderen Materialien zusammenfügt. Materialien wie Chiffon oder Leder findet man in den Arbeiten nicht in Form von konkreten Kleidungsstücken vor, sondern als abstrakte Skulpturen, die Kleidung aber dennoch referenzieren. In seiner skulpturalen Installation „Gi“ (2021), die sich in einer hinteren Ecke des Raumes – der wie ein überdimensionaler Schuhkarton wirkt – befindet, arbeitet er unter anderem mit Aluminium, Plastik, Chiffon, Papier, synthetischem Leder und einer Stoßstange. Das lange schwarze Chiffonstück hängt von der Decke bis auf den Boden wie ein transparenter Vorhang. Es könnte genau so gut aber auch das Rohmaterial für eine Hose oder ein Kleid sein, die dann aber nicht mehr im Ausstellungskontext verortet wären, sondern den Raum des Alltages beträten. In der anderen Skulptur „With a Crooked Stance” (2021) arbeitet Brazelton IV mit einer Stahlstange, Nägeln und Draht. Der Draht windet sich in schiefen, unkonventionellen Formen auf dem grauschwarzen Boden; ganz klar und ohne jegliche Ambiguität windet sich aber die Givenchy Kette um den Hals des Models. 

Cudelice Brazelton IV, „Gi“, 2021. Courtesy of the artist and Galerie Barbara Weiss, Berlin

In seiner Praxis arbeitet Brazelton IV häufig mit Assemblagen, wobei es sich nicht nur um zusammengefügte physische Materialien handelt, sondern auch um das Assemblieren verschiedener Kontexte und Themen, die er beispielsweise in Form von Skulpturen darstellt. In „Outfitting as Assemblage“ schreibt Jeppe Ugelvig davon, dass sich das Rätsel von Kleidung und deren Leserlichkeit in Skulptur kristallisieren würde, da die Kleidungsstücke in diesem Fall ihrem traditionellen Habitus des Alltages entnommen worden wären. Brazelton IV entfernt Kleidung nicht nur aus ihrem natürlichen Kontext, sondern dekonstruiert sie auch noch in einem weiteren Schritt, indem er nicht etwa eine Jacke oder T-Shirt in den Ausstellungsraum platziert, sondern das Rohmaterial und Fundament dieser Objekte zeigt und diese in Verbindung mit Stoffen setzt, die diesen zunächst fremd zu scheinen sein.

In diesem isolierten Status ist es wohlmöglich auch leichter zu reflektieren, mit welcher Bedeutung diese Materialien und potentiellen späteren Kleidungsstücke besetzt sind – oder überhaupt erst einmal zu erkennen, dass diese nicht vollkommen trivial sind. Umso einschneidender, dass Givenchy davon ausgeht, dass eine dezidiert nicht belanglose Henkersschlingen–Kette (im Alltag) getragen werden könnte. Mit „Starter Kit“ bietet Cudelice Brazelton IV ein Startpaket für ein neues Wahrnehmen von Kleidung sowie deren Materialien und Semantik, die je nach Kontext in wenig anderen Ausführungen vorzufinden ist, aber doch auf dem selben Modell basiert.   

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Samstag, den 23. Oktober.
WO: Galerie Barbara Weiss, Kohlfurter Str. 41/43, 10999 Berlin

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