Im Zeitverzug
„The Youngest Day“ bei carlier | gebauer

20. August 2021 • Text von

Oberflächlichkeit kann auch Tiefgang bedeuten oder dieser kann zumindest daraus erwachsen. Mit Los Angeles, scheinbares Epizentrum unserer unreflektierten materiellen Welt, beschäftigen sich die mehr als 20 Künstler*innen in der Gruppenausstellung „The Youngest Day“ bei carlier | gebauer.

Installationsansicht „The Youngest Day“, 2021, carlier | gebauer. Foto: Trevor Good 

Wenn Berlin aufwacht, legt sich Los Angeles schlafen. Wenn in Hongkong die Mittagssonne brennt, ist sie in L.A. schon längst untergegangen. Wenn in Sydney gerade erst der Tag vergangen ist, ruht die wohl bekannteste Stadt in Kalifornien lange im Tiefschlaf. Und selbst hinter New York hängt die zweitgrößte Stadt in den Vereinigten Staaten drei Stunden her. Eine zeitliche Verschleppung hinsichtlich des Restes der Welt scheint Los Angeles immanent zu sein. Ein Paradoxon? Denn abgekoppelt vom Rest der Welt ist die Stadt in keinem Fall. Entwicklungen, seien sie wirtschaftlich oder kulturell, finden nicht mit Zeitverzug statt. Eher werden Trends dort aus der Quelle heraus, im Geburtsort, der uns alle tangierenden Hollywood-Maschinerie fabriziert und in alle anderen Teile der Welt getragen – auch nach Berlin in die Ausstellung „The Youngest Day“ bei carlier | gebauer, die über 20 Künstler*innen vereint, die aus der kalifornischen Stadt kommen, dort leben oder gelebt haben.

Rechts: Thomas Demand, Daily #33, 2019. Links: Eddie Ruscha, MODULAR DIARY Dec_20_23rd 2019, 2019. Foto: Trevor Good.

Los Angeles folgt nicht uns, sondern wir L.A. – mit Kardashian-Obession. Dabei spielt keine Rolle, ob die positiv unterstützend oder negativ verurteilend ist, Gesprächsthema sind sie definitiv. Açaí-Bowls, High-End Fitness und in diesem Fall auch Kunst schwappen außerdem von der Westküste der USA nach Berlin, Hongkong und Sydney über. Die von Mathew Hale kuratierte Ausstellung folgt eben diesem Narrativ, das zwischen Hyper-Trendsetting und zur Schau gestellter Oberflächlichkeit schlingert, wobei L.A. gleichzeitig aber auch, wie er es nennt, „at the back of the world‘s day“ ist. Passend zum Thema (Hollywood-)Film hat Eddie Ruscha, der Sohn des weltbekannten Künstlers Ed Ruscha, dessen künstlerisches Werk ebenfalls von der Stadt Los Angeles geprägt ist, einen Soundtrack für die Ausstellung komponiert. Mit einem Headset kann man diesem während des Besuchs der Galerie in Berlin-Kreuzberg lauschen. 

nstallationsansicht „The Youngest Day“, 2021, carlier | gebauer. Foto: Trevor Good.

Am Eingang des hellen Hauptausstellungsraums von carlier | gebauer steht eine fuchsiafarbene übergroße Linse auf einem Sockel. Die aus Polyester bestehende Skulptur von Fred Eversley ist farbverlaufend gestaltet und in der Mitte transparent. Durch diese ringförmige Farbaussparung sind Arbeiten unter anderem von Fiona Connor, Eamon Ore-Giron und Rosha Yaghmai, in ihrer Form verzerrt, erkennbar. Die Skulptur des Künstlers, der jahrelang in Venice Beach gelebt hat und die Kunstszene in der Nachkriegszeit dort maßgeblich mitgestaltete, scheint wie ein überdimensionales Auge, durch das man kritisch beobachtet wird, dass man sich gleichzeitig aber auch aneignen und somit selbst zum*zur Beobachter*in werden kann.

Aneignung spielt auch bei den (pop)kulturellen Momenten in L.A. eine zentrale Rolle. Trends, die dort entstanden sind oder von dort lebenden Persönlichkeiten im aktuellen Kontext maßgeblich geprägt werden, sind nicht selten Produkt von kultureller Aneignung. Kim Kardashians Braids beispielsweise sind keine von ihr wiederentdeckten und zur neuen trendy Yeezy-Avantgarde transformierten „Bo Derek Braids“, wie sie sie nannte, sondern Cornrows, die tiefverankert in der Geschichte der Sklaverei sind. Es handelt sich eben nicht um einen banalen Haarstyle, den jede*r beliebig tragen kann. Schwarze Sklaven nutzten Braids unter anderem als Kartensysteme, indem sie sich mithilfe des jeweils unterschiedlichen Flechtmusters auf den Plantagen orientierten und sich dadurch potentiell eine Flucht ermöglichen konnten. Außerdem wurden Reiskörner oder Gold in den Zöpfen versteckt, was oftmals das reine physische Überleben sicherte. Deutlich wird hier der kulturelle Imperialismus, der ebenso von L.A ausgeht: Weiße, privilegierte Menschen geben ein kulturelles Gut als ihre Erfindung aus und trendisieren es.

Installationsansicht „The Youngest Day“, 2021, carlier | gebauer. Foto: Trevor Good.

„PROTESTATION“, „REBELLION“ und „DIVERSIFICATION“ fordert Sharon Lockhart in ihren zwei pechschwarzen „History Paintings“, auf die außerdem 27 andere Schlagwörter in einem leuchtenden Weiß plakatiert sind. Mit ästhetischem Minimalismus illustriert die Künstlerin soziale Themen, die alles andere als schlicht und einfach sind, wirft sie in den Ausstellungsraum und stellt sie somit auch in direkte Verbindung mit der Hauptthematik L.A. Ein weiteres von Lockharts Stichwörtern, „ISOLATION“, wurde nicht nur durch die Pandemie übermäßig präsent und amplifiziert, sondern war auch schon davor inhärenter Bestandteil des rigoros propagierten westlichen Individualismus, der eines seiner Epizentren in Los Angeles hat. Der Austausch mit anderen, ob romantisch – wie in den Zeichnungen von Nancy Buchanan, die diverse Sexszene zeigen – freundschaftlich oder beruflich, hat dann oft nicht mehr den Zweck mit anderen Menschen in einen genuinen Dialog zu treten, sondern das eigene Ich ausgiebig zu präsentieren. Individualismus mündet in zwanghafte Selbstdarstellung, die dann in Isolation endet, da alle Gedanken eigentlich nur um sich selbst zirkulieren – so wie die Kugel in dem auf Marmor platzierten Roulette „Still Life“ von Piero Golia. 

Installationsansicht „The Youngest Day“, 2021, carlier | gebauer. Foto: Trevor Good 

Los Angeles glitzernde Oberflächlichkeit kann also durchaus auch zu existenziellen Sinnfragen oder „enhanced existential tremors“ führen, die der Kurator Mathew Hale in L.A. erlebte. Die Verwandlung von oberflächlichem Geplänkel und Hinterhersprinten von Trends in ein tiefergehendes und kritisches Bewusstsein für sich Selbst und die eigene Umwelt passiert weder in drei Stunden noch neun oder siebzehn Stunden (Zeitverschiebung). Dennoch kann L.A.s zeitliches Hinterherhinken auch eine Möglichkeit sein, bewusster mit neuen Entwicklungen und Ereignissen umzugehen und nicht unverzüglich zu urteilen. Während hier schon eine ganze – nicht selten gedankenlos und wenig reflektierte – Twitter-Debatte ausgetragen wurde, liegt Los Angeles noch im Schlaf und wacht erst am nächsten Morgen zu einer fertigen News-Story auf, mit der sich dann aber weitaus durchdachter befasst werden kann. 

WANN: Die Ausstellung läuft bis Mittwoch, den 8. September.
WO: carlier | gebauer, Markgrafenstraße 67, 10969 Berlin. 

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