Zu Tränen gerührt Sophie Calle im Espace Louis Vuitton
26. September 2018 • Text von Julia Anna Wittmann
Detektivisch, voyeuristisch und dokumentarisch. Begriffe, die die Arbeitsweise der französischen Künstlerin Sophie Calle nur zu gut beschreiben. Im Münchner Espace Louis Vuitton wird neben einer klassischen Werkreihe aus den 80ern eine neuere Arbeit präsentiert, die eine andere Herangehensweise und große Emotionen zeigt.
Zuerst wenden sie uns ihren Rücken zu, dann drehen sie sich, nach und nach, langsam um. Wehmütige, lachende und mit Tränen gefüllte Augen blicken die Betrachtenden nun direkt an. Es ist ganz still. Nur das Meeresrauschen ist im Espace Louis Vuitton zu hören. Mit ihrer Kamera ist es Sophie Calle gelungen, den emotionalen Moment des ersten Mals einzufangen. Was für die meisten Europäer normalerweise im Kindesalter passiert, war für die Menschen, die die Künstlerin für ihre Werkreihe “Voir la mer” (2011) aussuchte, nicht möglich. Sie sehen nun, teilweise im hohen Alter, zum ersten Mal das Meer. Alle diese Personen, die wir auf den Bildschirmen dabei begleiten können, leben paradoxerweise in Istanbul, einer vom Meer umgebenen Stadt. Jedoch sind sie dort nicht aufgewachsen, sie alle stammen aus dem Landesinneren und zogen in ein Viertel, welches ganze 15 Meilen vom Meer entfernt liegt. Aus welchen Gründen auch immer diese Menschen nie die Möglichkeit hatten das Meer zu sehen – Sophie Calle lädt sie dazu ein. Mit verbunden Augen wurden die unterschiedlichen Personen, Frauen und Männer, jung und alt, zum Strand geführt. Die Kamera richtet sich gegen ihren Rücken. Wenn sie sich satt gesehen haben, durften sie sich umdrehen und in die Kamera blicken. Wir stimmen der Künstlerin zu, die sagt: “Ich denke, dass der Rücken mehr aussagt als fließende Tränen” und verkneifen uns selbst eine Träne beim Betrachten der Arbeit.
Die zweite, frühere Werkreihe “L’hotel” (1981), die im Espace zu sehen ist, zeigt uns die typische Vorgehensweise, für die die Künstlerin berühmt geworden ist. Sophie Calle, in ihrer Rolle der Detektivin. Menschen beschatten, fotografieren und dokumentieren. 1980 folgte sie einem flüchtigen Bekannten bis nach Venedig und kehrte ein Jahr später dorthin zurück um für drei Wochen in einem Hotel als Zimmermädchen zu arbeiten. Dort machte sie jedoch mehr als nur die Betten. Fünft Diptychen zeigen ihre fast schon voyeuristischen Aufzeichnungen. Beginnend mit der Zimmernummer und der genauen Datierung beschreibt ein ausführlicher Text Sophie Calles Investigationen und Entdeckungen. Sie findet Postkarten, Notizbücher, Pornografische Hefte, schminkt sich mit fremdem Makeup, durchsucht Koffer und isst Schokolade.
Zusammen mit den schwarz-weißen “Beweisfotos”, die sich unter der Beschreibung befinden, konstruiert die Künstlerin ein Porträt jeden Gastes. Ein Mythos wird geschaffen. Wir bekommen eine genaue Vorstellung der Personen, deren intime, materielle Besitztümer uns präsentiert werden. Für Sophie Calle steht nicht die Lösung der Geheimnisse im Vordergrund, sondern die perfekte Inszenierung. Wir erfahren nie, wer die beschriebene Person wirklich ist – wahrscheinlich wären sie nicht spannender als wir.
WANN: Die Ausstellung ist noch bis 24. Februar zu sehen.
WO: Espace Louis Vuitton, Maximilianstraße 2a, 80539 München