Unter den Talaren
Das Sonderprogramm der Berlinale Shorts zu '68

12. Februar 2018 • Text von

„Rote Fahnen für alle!“ – Ein Dutzend Kurzfilme aus dem Sonderprogramm der Berlinale Shorts werden unter diesem Titel während des Festivals präsentiert und geben Einblick in die gesellschaftlichen und ästhetischen Veränderungen rund um 1968.

In den letzten Jahren häufen sich dem Gefühl nach die Jubiläen von historischen Ereignissen der jüngeren Geschichte. Oder sind diese seit Neuestem nur immer häufiger dankbarer Aufhänger für Kulturprogramme aller Art? Auf den ersten Blick scheint ein historisches Jubiläum als Anlass für eine Ausstellung, ein Theater- oder Filmfestival vergleichsweise zufällig. Die Einteilung von Zeit in Tag, Woche, Monat und Jahr ist ein menschliches Konstrukt und keine kuratorische Entscheidung. Bei genauerem Hinsehen allerdings lässt sich feststellen, dass der Blick zurück das Hier und Jetzt nicht nur historisch erklärt, sondern neue Handlungsperspektiven eröffnet.

So widmet die Sektion der Berlinale Shorts dem 50. Jahrestag von 1968 während des Festivals ein Sonderprogramm. Neben dem internationalen Wettbewerb werden unter dem Titel „1968 – Rote Fahnen für alle“ zwölf Kurzfilme gezeigt, die in den späten Sechzigern in der Bundesrepublik, Österreich, Schweden und den USA entstanden sind. Zwei schwerpunktmäßige Tendenzen innerhalb des Programmes demonstrieren ästhetische Strategien, ebenso wie Möglichkeiten der gesellschaftlichen Einflussnahme.

Marquard Bohm und Helmut Herbst: „Na und…?“ © Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen“

Auf der einen Seite steht das Aufbegehren gegen Konventionen und soziale Zwänge im Nachkriegsdeutschland. Marquard Bohm und Helmut Herbst bebildern mit „Na und…?“ die Realität eines jungen Mannes, der sich gegen die vorgelebten Ideale von Beruf, Familie, Haus und Auto stellt. 33 Minuten lang folgt die Kamera dem Rumtreiber wie er mit anarchistischer Gleichmütigkeit in Vorstellungsgesprächen sitzt, ziellos durch die Hamburger Innenstadt streift, währenddessen mindestens zwei Schachteln Zigaretten rauchend. Nachmittags trifft er sich mit seiner Freundin, die einer gewöhnlichen Bürotätigkeit nachgeht und bei deren Familie die beiden auf einem schmalen Bett mit Eisengestell in der wohlhabenden Vorstadt schlafen. Auf ihre Frage, ob er heute erfolgreich war, gibt er keine Antwort, sondern zündet sich stattdessen die nächste Kippe an. So nachvollziehbar die Totalverweigerung des männlichen Protagonisten erscheint, erhält die Rolle der Frau, die sein Treiben durch ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre fortlaufende Fragerei nicht nur kontrastiert, sondern auch konstruiert, nach dem nächsten Film eine andere Qualität.

Christine Gehner: Programmhinweise

In „Programmhinweise“ sieht man eine junge Fernsehsprecherin in einem gelben Wolloberteil mit Rüschen und einem ovalen Kurzhaarschnitt. „Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren. Bevor wir aus Grenoble die Europameisterschaften im Eiskunstlauf übertragen, gestatten Sie mir einige Hinweise zur Emanzipation der Frau.“, liest sie von ihren Notizen ab. In den folgenden Minuten zeichnet das Mädchen ein eindrückliches Bild von ihren Gedanken zur weiblichen Emanzipation. Zwischen Unabhängigkeitsbestrebungen, Forderungen nach der Gleichstellung von sexuellen und amourösen Bedürfnissen von Mann und Frau und dem Wunsch nach Verständnis und Zuneigung reüssierend, sagt sie gegen Ende resigniert: „Ich weiß nicht, ob ich mich nicht doch lieber den Ansprüchen der Männer fügen soll, denn schlimmer als die Unterdrückung ist die Isolation.“

Die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von widersprüchlichen Momenten innerhalb einer Gesellschaft wird in „Programmhinweise“ zugespitzt dargestellt: Beginnend bei der Kleidung der Sprecherin, über den nüchternen Ton ihres Kommentars, bis zu der darauffolgenden Ausstrahlung des Eiskunstlaufes. Während „Na und…?“ ein Gefühl illustriert, schafft es „Programmhinweise“ eine emotionale Reaktion zu erzeugen. Unabhängig davon, ob es sich dabei um Mitgefühl oder Ärgernis handelt, liegt in der Aktualität der von der Regisseurin Christine Gehner artikulierten Fragestellungen auch heute noch eine Handlungsaufforderung gegenüber dem Publikum.

Birgit und Wilhelm Hein: „Rohfilm“ © Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V.

Auf der anderen Seite werden innerhalb von „1968 – Rote Fahnen für alle“ eine Reihe experimenteller Filme gezeigt, die sich mit der Veränderung der Medienlandschaft in den sechziger Jahren auseinandersetzten. Kurz nach dem Aufkommen der ersten Videokameras für den alltäglichen Gebrauch, musste sich der Film als photochemisches Medium neu positionieren. Birgit und Wilhelm Hein demonstrieren mit „Rohfilm“ das ästhetische Potential der Filmtechnik, mit der sie experimentierten. Ein gewaltsames Rauschen von Bild und Ton über 20 Minuten nimmt das Medium und seine Materialität unter die Lupe. Von Negativ zu Positiv, von 8 zu 16 mm, von dem Filmen der Filmspule zum Filmen der Projektion in der Geschwindigkeit des modernen Zeitalters. Indem der Betrachter auf formal-ästhetischer Ebene an seine Grenzen getrieben wird, wird ihm die Möglichkeit einer narrativen Aneignung des Dargestellten verwehrt und dem Medium dadurch die alleinige Autorität zurückgegeben.

Gunvor Nelson: „My Name is Oona“

Ein weitaus poetischerer Kurzfilm aus den USA wendet sich ebenfalls von der traditionellen Erzählstruktur des Bewegtbildes ab. „My Name is Oona“ von Gunvor Nelson ist eine expressionistische Montage von Aufnahmen ihrer Tochter, die kontinuierlich den Satz „My Name is Oona“ wiederholt, bis die Worte sich beim Zuschauen auflösen. Kindliche Leichtigkeit, fantasievolle Vorstellungskraft und Konstruktion von Identität bilden den Plot des bildlichen Essays. Sowohl formal, als auch inhaltlich erinnert der Kurzfilm an das virale Video der Musikerin und Internetpersönlichkeit Poppy „I’m Poppy“. Über dieselbe Länge von 10 Minuten wiederholt eine hippe Jugendliche mit weißblonden Haar ebenfalls immer denselben Satz, anstatt stilisierter Aufnahmen von der Kindheit des Mädchens, steht Poppy vor einer weißen Fotoleinwand und scheint mehr Avatar als Mensch zu sein.

Ob es sich um die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen oder um die grenzgängerische Befragung von Massenmedien und deren Einfluss auf menschliche Kommunikation handelt, in maximal 30 Minuten schaffen es die Kurzfilme des Sonderprogrammes der Berlinale Shorts konventionelle Sichtweisen zu durchbrechen. Mit einem aufmerksamen Blick werden alltägliche Momente festgehalten, befragt und neuen Handlungsperspektiven gegenübergestellt. 50 Jahre ist es genau dieselbe Aufgabe, der sich künstlerische Praktiken von Kurzfilm bis Gemälde annehmen sollen. Rote Fahnen für alle!

WANN: Das Sonderprogramm der Berlinale Shorts wird am Samstag, den 17. Februar, um 21:30 Uhr und am Sonntag, den 25. Februar, um 19:30 Uhr, gezeigt.
WO: Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin (17.02.) und Zoo Palast, Hardenbergstraße 29A, 10623 Berlin (25.02.). Details und Tickets hier.

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