Study of Transformation
Fabelwesen und Metamorphose bei Tanya Leighton

19. Februar 2021 • Text von

Die Ausstellung “Tempest” vereint sechs Künstler*innen, deren Arbeiten Formen der Transformation erörtern. Unter dem Überthema “Wasser” finden sich Fabelwesen, Wolkenbildung, Stadtentwicklung, Animation, Materialbildung und Erinnerung – ein Gewitter an visuellem und inhaltlichem Input!

“TEMPEST”, installation view, Tanya Leighton, Berlin / Sadie Coles HQ, London, Kurfürstenstraße 24/25. Photography: Gunter Lepkowski. Courtesy of the artists; Sadie Coles HQ, London; and Tanya Leighton, Berlin.

Die Ausstellung in der Kurfürstenstraße ist auch von außen eine Freude: Im linken Teil des durch Glas einsehbaren Galerieraumes liegt eine Oktopus-Plastik, die Tentakel von sich gestreckt. Mittig an der Rückwand ist auf einem Bildschirm ein hypnotisierendes Video zu sehen, in welchem sich Animationsfiguren in stetigem Flow von Mensch in Tier und zurück verwandeln. Rechts daneben residiert die Plastik eines Mischwesens, Schakal trifft Römischen Imperator trifft 21st Century-Space-Ästhetik. Bei Betreten der Galerie mischt sich zu diesen Eindrücken das ebenso einnehmende Musik-Audio der Videoarbeit. Entrückung perfekt.

Die Videoarbeit stammt von dem österreichischen Künstler Oliver Laric. In akkurater Feinarbeit hat der Künstler Found-Footage aus Animationsfilmen zusammengefügt und einen scheinbar endlosen Fluss an wechselnder menschlich-animalischer Wesensbildung erzeugt. Das Ergebnis rangiert zwischen verstörend, unterhaltsam oder schlicht unerwartet.

Die Plastik “Hermanubis” daneben gibt ebenso Rätsel auf: Auf einem filigranen Gestell aus Aluminium schaut der Kopf eines Schakals visionär in die Ferne. Pose und Blick gleichen jener antiker Herrscher-Skulpturen, die Hand zur würdevollen Geste ausgestreckt – “Noli me tangere”. Die Oberflächen der Plastik bilden hierzu einen vollkommenen Gegensatz: Perfekte Flächen unterschiedlicher Struktur bilden ein regelmäßiges Materialpuzzel, aus welchem sich die Plastik zusammenfügt. Glossy, netzartig, rau, metallic – lediglich die weiße Farbe erinnert an Marmor. Von hinten geöffnet gibt die Plastik Einblick in ihre Konstruktion. Oliver Laric adressiert hier die Frage der Originalität. Mit Verweis auf die ägyptische Gottheit Anubis sowie die römischen Imperatoren bildet die Plastik eine Kopie der Kopie der Kopie. Und doch ein Original.

Zwei Arbeiten der Künstlerin Michele Abeles in der Galerie Tanya Leighton, Berlin.
“TEMPEST”, installation view, Tanya Leighton, Berlin / Sadie Coles HQ, London, Kurfürstenstraße 24/25. Photography: Gunter Lepkowski. Courtesy of the artists; Sadie Coles HQ, London; and Tanya Leighton, Berlin.

Die großen Arbeiten Michele Abeles’ deuten in eine ähnliche Richtung. Aus der Distanz erinnern sie an Claude Monets Seerosen; von nahem erweisen sich die Werke als digitale Print-Collagen mit Strand- und Vegetationsmotivik. Die Künstlerin thematisiert Fragen der Bildästhetik mit Bezug auf Bildinhalt, -struktur und -rezeption. Monet meets Michelle, Moderne den digitalen Print.

Die kleinformatigen Collagen Abeles’ daneben greifen den Tier-Bezug auf: Mit Fake-Kroko-Rahmen verweist die Künstlerin auf in floridianischen Sumpfgebieten lebende Reptilien und exerziert an diesem Thema die Essenz der Collage: Motive der Stadtarchitektur verbinden sich mit Tüll, Werbepapier und Mini-Kameras und verhandeln die Beziehung von Landschaft und Natur.

Michele Abeles, “Micrurus fulvous”, 2018. © Michele Abeles, courtesy Sadie Coles HQ, London. Installation photography: Robert Glowacki

Das übergeordnete Thema der Ausstellung ist “Wasser”. Die Show ist Teil des internationalen Kooperationsprogramms RHE: galleriescurate, in welchem sich 21 internationale Galerien, teils in Kooperationen, dem Thema in Form von Ausstellungen und Interventionen widmen. “Tempest” bildet die Zusammenarbeit zwischen Tanya Leighton und der Londoner Galerie Sadie Coles HQ. Jeweils drei der versammelten Künstler*innen sind mit der einen beziehungsweise anderen Galerie assoziiert. Die künstlerischen Positionen der Ausstellung beleuchten das Sujet dabei sehr umfassend, in Form eines stetigen Wandels und Fließens. Eine Anlehnung an die drei Aggregatzustände des Wassers, welche den essenziellen Teil der Evolution und des natürlichen Kreislaufes bilden.

Monster Chetwynd, “Hokusai’s Octapai”, 2004. “TEMPEST”, installation view, Tanya Leighton, Berlin / Sadie Coles HQ, London, Kurfürstenstraße 24/25. Photography: Gunter Lepkowski. Courtesy of the artists; Sadie Coles HQ, London; and Tanya Leighton, Berlin.

In Monster Chetwynds “Hokusai’s Octapai” ist der Bezug zum Wasser offensichtlich. Ein überlebensgroßer Oktopus liegt vor einer den Boden miteinschließenden Wandtapete im Raum. Trotz seiner Größe – und einer persönlichen Abneigung der Autorin gegen Tentakel – wirkt er nicht bedrohlich. Die Augen sind lieb, das Tier scheint perfekt in seine Umgebung platziert. Die Plastik besteht ausschließlich aus recycelten Materialien: Latex, Pappe, Zeitung, darüber Farbe. Formen und Oberfläche wirken vollkommen organisch und natürlich – real. Die Wandtapete im Hintergrund zeigt einen Print des Japanischen Malers Hokusai, “The Fisherman’s Wife”. Eine Frau wird von zwei Oktopussen verführt. Der Gesichtsausdruck dieser Tiere – Bestien – ist wollüstig und vollkommen gegensätzlich zum friedlichen Ausdruck der 3D-Version davor. Metamorphose durch Trieb.

“TEMPEST”, installation view, Tanya Leighton, Berlin / Sadie Coles HQ, London, Kurfürstenstraße 24/25. Photography: Gunter Lepkowski. Courtesy of the artists; Sadie Coles HQ, London; and Tanya Leighton, Berlin.

Alvaro Barringtons “Cloud”-Serie verbindet die Geschichte der eigenen Vorfahren mit dem englischen Maler William Turner. Ausgangspunkt der Arbeiten bildet die Idee der Überquerung des Ozeans: Wie seine Vorfahren bei ihrer Einschiffung als Sklaven und der englischen Meister nach seinen Reisen überquerte auch Barrington für das Erreichen seiner Wahlheimat London den Atlantik. Die “Cloud”-Series reflektiert den Blick auf die Wolken und den Ozean bildet eine damit eine Hommage sowohl an die Sujets Turners als auch die Erfahrung seiner Ahnen. Die Zeichnungen beeindrucken durch ihre augenscheinliche Materialität: Dicke Pinselstriche, dann wieder so zart, dass die Ölfarbe wie Kohle erscheint, die Struktur des Sackleinen. Das Material scheint sich in den Werken zu verändern, eine weitere Variatio der Transformation.

Die “Jet Plane 1840-1867”-Arbeiten sind im Gegensatz zu den “Clouds” dicht mit Farbe gefüllt. Nahezu weiß beziehungsweise Schwarz gleichen sie einem Schneesturm oder einem Gewitter auf See. Auch hier ein Bezug zu Turner. In den Aggregatzuständen des Wassers – Schnee, Regen – schließt sich der Kreis zum Ausstellungsthema.

Alvaro Barrington, “Jet Plane 1840-1867 (n)” und “Jet Plane 1840-1867 (d)”, 2020. “TEMPEST”, installation view, Tanya Leighton, Berlin / Sadie Coles HQ, London, Kurfürstenstraße 24/25. Photography: Gunter Lepkowski. Courtesy of the artists; Sadie Coles HQ, London; and Tanya Leighton, Berlin.

Am zweiten Standort der Galerie wird das Thema Transformation aus zwei weiteren Perspektiven betrachtet. Die “Modern Paintings” Pavel Büchlers sind ein Produkt von auf Flohmärkten gefundenen alten Gemälden. In mehreren Waschgängen entfernte Büchler die ursprünglichen Motive der Leinwände und teilte sie danach in Stücke. Zusammengefügt und mit neuer Farbe versehen erinnern die Bilder zeitgleich an den Abstrakten Impressionismus und das Informel. Moderne pur im 21. Jahrhundert.

Pavel Büchler, “Modern Paintings”, 1997-2002, installation view. “TEMPEST”, Tanya Leighton, Berlin / Sadie Coles HQ, London, Kurfürstenstraße 24/25. Photography: Gunter Lepkowski. Courtesy of the artists; Sadie Coles HQ, London; and Tanya Leighton, Berlin.

Sky Hopinkas Arbeiten gleichen fotografisch festgehaltenen Kaleidoskop-Ausschnitten. Filmstücke und Negative scheinen diffus übereinandergelegt und bilden ein eigenartiges, neues Tableau. Der Künstler erörtert in den digital zusammengefügten Bildcollagen seine indigenen Wurzeln und die Beziehung zum “Homeland”. Unter den Bildern sind enigmatische Worte oder Satzfragmente eingefügt: “These are dense countries and empty cities.” Tiefgründige Sozialkritik inklusive.

Das Video “Lore” gibt Aufschluss über die Entstehung der Arbeiten. Zu einem poetischen Voice-Over des Künstlers werden Negative über einen Projektor geschoben. Bild und Ton verfließen – im Fluss der Bilder. “A home is a home is a home is a home outside your own.” Eine Referenz im Voice-Over auf den Ozean ruft die Verbindung zum Wasser zurück.

Sky Hopinka, “Lore”, 2019, film still. Courtesy of the artist; The Green Gallery, Milwaukee; and Tanya Leighton, Berlin

Die Ausstellung “Tempest” ist – gleich einem Gewitter – unsagbar vielschichtig und komplex. Worte scheinen das Erlebnis nicht adäquat wiederzugeben, Erstere bleiben hinter Letzterem zurück. Nach Meinung der Autorin geschieht dies stets im Falle künstlerischen Genies. Im Falle von “Tempest” zeigt sich dieses in doppelter Form, zunächst in den einzelnen Werken. Zusammengefügt ist die Ausstellung ein Kunstwerk in sich.

WANN: Auf Grund der anhaltenden Maßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie kann die Ausstellung derzeit leider nicht besucht werden. Sie ist jedoch noch bis Samstag, den 27. Februar, 24/7 in sehr guter Aufbereitung online zu besichtigen. 
WO: Auf der Webseite der Galerie Tanya Leighton.

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