Material total Thorsten Brinkmann in der Gerisch-Stiftung
15. Oktober 2020 • Text von Martina John
Thorsten Brinkmann hat Villa und Skulpturenpark der Gerisch-Stiftung mit seinen Fotografien, Plastiken und Installationen in eine Sperrmüll-Schatzinsel verwandelt. Wir haben uns nördlich von Hamburg auf einem Ausflug nach “Trasher Island” begeben.

Schon beim Betreten der prachtvollen Parkanlage der Gerisch-Stiftung, werden die Besucher*innen mit der “Kista del Sol” konfrontiert, ein chimärenhaften Objekt aus zwei Teilen, die eigentlich gar nicht zusammenpassen. Ein überdimensioniertes Stierhorn – Fundstück aus der Deko eines US-Fastfood-Restaurants – krönt eine Holzkiste von Hafencontainer-Dimensionen. Wer die Kiste durch eine kleine Luke betrifft, steht im muffigen Halbdunkel und kann kaum atmen, so vollgeramscht ist der Innenraum: Ausrangierte Möbelstücke, Vasen, Lampen, Gardinen – willkommen auf “Trasher Island”!

Zeug. Kram. Plunder. Das ist das Ausgangsmaterial für die Plastiken und Fotoarbeiten des 1971 geborenen Thorsten Brinkmann. Aus einem gigantischen Fundus von Alltagsüberresten erschafft er kreative Chimären in verschiedenen Medien. Zum Beispiel wird einer trashigen Papageienstatue das betroddelte Glaselement eines alten Parfumflakons auf den Hals montiert (“Papagon” 2020). Ein Karton mit Hose und alten Turnschuhen wird zum Selbstbild des Künstlers (“Kofferling” 2006). Eine wilde Assemblage aus Cowboystiefeln, Kamera-Auge, Vase und Küchentablett mit 70er-Jahre-Muster bekommt einen String-Tanga über das Mittelteil gespannt und gewinnt prompt humanoide Formen (“Paradiesvögler” 2011).
Meint man bei den Plastiken vielleicht noch, diese Art wilden Eklektizismus schon anderswo im Objet-trouvé-Bereich gesehen zu haben, bearbeiten Thorsten Brinkmanns Fotos das Rohmaterial aus seiner privaten Sammlung noch origineller. Arbeiten wie “d’Iron” (2019) erinnern auf den ersten Blick an die virtuos gemalten Texturen der alten Meister. Sie evozieren die Ikonografie spätmittelalterlicher Ritterrüstungen oder venezianischer Dogenportraits.

Allerdings ist das, was da zu sehen ist, weder Gemälde noch historisches Sujet. Denn Brinkmann fotografiert sich selbst, verkleidet und versteckt hinter Mülleimern, Autoblech, Glitzervorhängen und andern Requisiten aus seinem Fundus. Die historisierende, “wertige” Formsprache der so entstehenden Bilder ist reine Illusion – das Ausgangsmaterial bleibt Gerümpel.
Einige der Arbeiten – wie zum Beispiel “Venus de Shade” (2016) treiben das Spiel mit dem Material auf die Spitze, indem die auf dem Foto abgebildeten Elemente aus Holz oder Stoff an den Rahmen montiert wurden und so plastisch in die Realität auskragen. Eine Materialverwertung auf verschiedenen Ebenen: Erst das Foto, das ein Trompe d’Oeil Gemälde imitiert, dann das reale Material, das die Illusion gleich wieder demontiert.
Ein Ansatz dieses spielerischen Umgangs mit Brinkmanns Materialfundus ist schon in einer Videoarbeit von 2003 sichtbar, die in der Remise des Stiftungsanlagen gezeigt wird. Der Künstler experimentiert in dem Clip damit, seinen Körper in Bezug zu den Objekten zu setzen. Er rollt auf alten Autoreifen durch die Gegend, stülpt sich einen Karton über den Kopf oder zwängt sich durch die Armlehnen-Öffnungen eines Stuhls. Gemein ist den Aktionen, dass sich der Künstler möglichst unkonventionell im Widerspruch ihrer eigentlichen Funktion mit den Gegenständen auseinandersetzt.

Was ist das Ganze? Moderner Dada? Upcycling gegen den Horror Vacui? Irgendwie Camp? Von allem ein bisschen vermutlich. Auf jeden Fall macht die Ausstellung Spaß. Nicht zuletzt, weil “Trasher Island” kindliche Schnitzeljagd-Instinkte weckt – die schiere Freude daran, die Objekte in den Kunstwerken zu “entziffern” und ihren ursprünglichen Kontext zu identifizieren. Gleichzeitig können Brinkmanns Arbeiten auch durchaus als kritisch gegenüber unserer Konsumkultur gelesen werden, indem sie den schnelllebigen Verwertungszyklus von Gegenständen hinterfragen und “tote”, auf dem Müll ihrer Funktion beraubte Objekte mit neuem Kontext und neuem Leben versehen.
WANN: Die Ausstellung ist noch bis zum 3. Januar 2021 zu sehen. Mittwoch bis Sonntag, je 11 bis 18 Uhr.
WO: Herbert-Gerisch-Stiftung, Brachenfelder Str. 69, 24536 Neumünster – 60 Kilometer nördlich von Hamburg.