Die Koexistenz der Gegensätze
"The Garden. Kinematografien der Erde" um Derek Jarman im Silent Green

9. August 2021 • Text von

“The Garden” im Silent Green kreist um das Werk des britischen und queeren Filmemachers Derek Jarman. Internationale Künstler*innen reagieren auf ihn, seinen gleichnamigen Film, sein “Prospect Cottage” und die resultierenden Lebens- und Umweltfragen. Die Ausstellung ist vielschichtig – wir wagen eine Annäherung.

Ein Blick in einen garten, der mit Steinen ausgelegt ist und in dem Skulpturen stehen. Im Hintergrund hängt Wäsche an der Leine und es ist ein Atomkraftwerk zu sehen. Der Himmel ist blau.
Prospect Cottage, 2021 © silent green.

Spannung entsteht häufig da, wo das vermeintlich Paradoxe aufeinander trifft. Dort, wo das Gesamtkonstrukt zu komplex wird, um es auf wenige Einzelaspekte herunterzubrechen. In gesellschaftlichen Diskursen lässt sich oft beobachten, wie wir es uns manchmal ganz schön einfach machen, Details bewusst ausklammern oder übersehen wollen, in Schubladen oder Schwarz-Weiß-Sichtweisen denken. Ein Dazwischen oder gar eine Koexistenz von Gegensätzen scheint oft nur schwer annehmbar. Etwa so verhält es sich auch mit der aktuellen Ausstellung “The Garden. Kinematografien der Erde” im Silent Green Kulturquartier, die voller vermeintlicher Gegensätzlichkeiten steckt. Leben, Krankheit und Tod, das Aufblühen der Natur und ihr gleichzeitiger, allgegenwärtiger Zerfall existieren in der Realität wie in dieser Ausstellung mit- und nebeneinander. Die Komplexität des Lebens mit all seinen dazugehörigen Facetten – dem Wohlbefinden, Umweltfragen und Religion bis hin zur eigenen sexuellen Orientierung im gesamtgesellschaftlichen Kontext – kommen hier zum Tragen.

Ausstellungsansicht in der Betonhalle des silent green, der Raum ist blau erleuchtet, im Vordergrund hockt eine Besucherin über dem Boden und schaut etwas an, im Hintergrund stehen Menschen an einem Tisch, durch Fensteröffnungen ist ein Videostill zu erkennen
Ausstellung “The Garden” © Bernd Brundert.

Das Silent Green Kulturquartier in Berlin-Wedding ist ein Areal der besonderen Art – es befindet sich in den historischen Räumen eines ehemaligen Krematoriums und grenzt an einen Friedhof an. Hier weht ein Wind der Vergänglichkeit, der aber keinesfalls bedrohlich ist. Schon im grünen Hof stößt man auf die ersten Arbeiten der neuen Ausstellung: Lochkamerafotos von Dagie Brundert, die jene Orte des Gartens auf dem Gelände des Silent Green zeigen, an denen sie entstanden sind. Die Schwarz-Weiß-Bilder werden aus biologisch abbaubaren Stoffen zeitaufwendig entwickelt und hier der Natur überlassen. Sound-Arbeiten des in Berlin gegründeten Kollektivs CHEAP werden ebenfalls erfahrbar und unter der Erde in den Ausstellungshallen fortgeführt. Dadurch wird eine direkte Verbindung vom Außen- zum Innenraum hergestellt.

Zur tatsächlichen Ausstellung schreitet man einen langen, dunklen Gang hinunter in die Betonhalle, der ehemaligen Leichenhalle des Krematoriums. Die erste Videoarbeit nimmt einen im Autozug unterhalb des Ärmelkanals nach England mit – dem Wirkungsort des Künstlers und Aktivisten Derek Jarman (1942-1994). Mit seinem Schaffen, dem 1990 veröffentlichten Film “The Garden” und außergewöhnlichen Wohngrundstück “Prospect Cottage”, das er bis zu seinem Tod bewohnte, ist er Ausgangspunkt dieser Ausstellung.

Man sieht ein schwarzes Haus mit gelben Fenster- und Türrahmen, davor ist ein blühender Garten und es liegen viele Steine aus, im Hintergrund ist in der Ferne ein Kernkraftwerk zu sehen, der Himmel ist blau
Prospect Cottage 2021 © Peter Cusack.

“The Garden” ist ein Film, der Homosexualität im 20. Jahrhundert mit religiöser Ikonografie in starken Bildern, wenigen Dialogen und mit skurriler Musikuntermalung verhandelt. Ein schwules Paar wird verfolgt, gefoltert und umgebracht, die Madonna wird von vermummten Paparazzi gejagt und Jesus schaut dabei zu, wie die Welt an ihm vorüberzieht. Zum Entstehungszeitpunkt des Filmes war Derek Jarman bereits HIV-positiv und erlag wenige Jahre später seiner Erkrankung. Als eindeutige Referenz zum Ort, haben Bettina Ellerkamp, Jörg Heitmann und Philip Scheffner den Film seziert und in einer 12-Kanal-Videoinstallation in seine Einzelteile zerlegt, um die Vielschichtigkeit der Eindrücke und Sinneserfahrungen in einer neuen Erzählweise aufleben zu lassen. Die bemerkenswerte Gestaltung der Leichenhalle wird mit Fensternachbauten als Umrisse von Derek Jarmans Wohnhaus und einem Recherchetisch mit einer Vielzahl von Fotos komplementiert.

Ausstellungsansicht in der Betonhalle des silent green, der Raum ist blau erleuchtet und man sieht mehrere Videoprojektionen und Menschen, die auf Bänken davor sitzen. In der Mitte ist eine Rauminstallation mit schwebenden gelben Fenstern, die von der Decke hängen. Dazwischen ein Tisch, auf dem Fotos liegen
Ausstellung “The Garden”, silent green © Bernd Brundert.

Einblicke in das Zuhause von Derek Jarman gewährt auch die umfangreiche Fotoserie von Howard Sooley, der ihn in den letzten Jahren seines Lebens begleitete. Die Bilder sind ein persönliches Portrait von Jarman und seiner Krankheit und dokumentieren gleichzeitig das Aufleben und die Entwicklung des hauseigenen Gartens, dem er viel Zeit widmete. Doch was macht diesen Ort so außergewöhnlich? Das “Prospect Cottage” befindet sich in Dungeness, Kent, einem Küstenort im Südosten Englands, wo die Landzunge in den Ärmelkanal ragt. Es ist ein Ort der Komplexität und Widersprüche: Hier existieren unter anderem ein Atomkraftwerk, Leuchttürme für die Schifffahrt, Schießstände der Armee, eine Miniatureisenbahn, Ferienlager und ein großes Naturschutzgebiet nebeneinander. Jährlich zieht es etwa eine Million Besucher*innen an diesen spannenden Ort. Und mittendrin das Haus von Derek Jarman, das gleichzeitig auch einer der Drehorte für seinen Film “The Garden” war. Peter Cusack hat diesen Ort mehrfach besucht und seine vielseitigen Klänge und Töne aufgenommen. Auch sie begleiten das Ausstellungserlebnis.

Das Ausstellungsprojekt im Silent Green zeigt noch einige Arbeiten mehr, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit den Themenfeldern, die auch Derek Jarman umtrieben und betrafen, auseinandersetzen. Auch Mixed-Media-Collagen von Derek Jarman selbst, der ursprünglich bildender Künstler war, und digitale Auszüge aus seinen Skizzenbüchern werden präsentiert. Wer glaubt, ein einziger Text könnte Aufschluss geben, muss an dieser Stelle leider enttäuscht werden. Die Ausstellung vereint so vieles gebündelt an einem Ort, das Schritt für Schritt durchdrungen werden muss, um sich der Vielschichtigkeit bewusst zu werden. Zentral in der Ausstellung ist die Natur, das Draußen und der Garten, verortet wird sie aber im Dunklen, in der Leichenhalle eines ehemaligen Krematoriums. Sie positioniert sich auf dem schmalen Grat irgendwo zwischen Leben und Tod, zwischen der Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit und zeigt einmal mehr auf, dass unser aller Leben aus Komplexitäten und vermeintlichen Gegensätzen besteht und die Widersprüche vielleicht auch keine tatsächlichen Widersprüche sind. Sie koexistieren.

Ein Blick in das Begleitprogramm der Ausstellung lohnt sich: Der Originalfilm “The Garden” wird mehrfach gezeigt sowie andere thematisch passende Filme aus den 1980er, 90er Jahren, unter anderem von Todd Haynes, und der Gegenwart. Es werden außerdem Lesungen, Spaziergänge und Gesprächsrunden veranstaltet.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 22. August.
WO: Silent Green Kulturquartier, Betonhalle, Gerichtstraße 35, 13347 Berlin.

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