The ambiguity of the objects
19. Februar 2016 • Text von Quirin Brunnmeier
James Casebere schafft Raum- und Architektur-Modelle und inszeniert sie als fotografische Ideenwelten: Gefängniszellen, Treppenhäuser, sakrale Architektur und profane Vorstadtidyllen werden so zu ideellen Referenzräumen. Das Haus der Kunst widmet dem amerikanischen Künstler unter dem Titel „Flüchtig“ eine Retrospektive mit 70 Werken aus 40 Jahren.
„Credit, Faith, Trust“ steht auf der Anzeigentafel neben dem eingezäunten Baseballfeld. Daneben die typischen amerikanischen Schulbusse, dahinter das vermeintliche Vorstadtidyll: Einfamilienhäuser in unterschiedlichen Stilen, Solarpanele auf dem Dach und Satellitenschüsseln im großzügigen Garten. Am Horizont meint man die Windräder förmlich surren zu hören. Doch die Straßen sind gähnend leer, keine Menschenseele belebt die Neubausiedlung, gespenstisch zweideutig wirkt das großformatige Bild.
Hohe Kredite, der verbissene Glaube an die Wirtschaft und das falsche Vertrauen in die Banken waren die Zutaten für jene Immobilienblase, die ab 2008 nicht nur die amerikanischen Bausparer in ihren Gated Communities erschütterte, sondern die Unsicherheiten der globalen Finanzwirtschaft sichtbar machte. Banken gingen Pleite und Häuser wurden zwangsversteigert. Nicht nur die Blase platze, für viele platzte auch das vermeintliche Idyll.

Bild: James Casebere, Landscape with Houses (Dutchess County, NY) #2, 2009, Courtesy MFA Financial Inc., New York
Das Bild „Landscape with Houses“ ist Teil einer Serie, die James Casebere nach Beginn der Finanzkrise begann und in der er sich wirtschaftlichen und ökonomischen Verwerfungen widmet. Die großformatigen, farbigen Bilder geben eine nur scheinbar heile Welt wieder, evozieren bedrückende Vorahnungen und lassen, fast wie die Filme von David Lynch, unter die Oberfläche der gepflegten Vorgärten blicken. Casebere interessiert sich für die Ideen von Räumen und Landschaften, für deren Verortung in der Gesellschaft und deren Kontext in der Geschichte. Dafür nutzt er Strategien der Verfremdung und Abstraktion: Seine fotografischen Arbeiten basieren auf Modellen, die er wie Kulissen nutzt, sie suggestiv ausleuchtet und mit Hilfe anderer atmosphärischer Effekten inszeniert. Die detailreichen und vielschichtigen Aufnahmen dieser selbst gefertigten Architekturmodelle aus Materialien wie Styropor, Papier und Gips bleiben dabei eindeutig Modelle, sie negieren ihre Konstruktion bewusst nicht.

Bild: James Casebere, Samarra, 2007, Courtesy the Artist and Sean Kelly Gallery, New York , © James Casebere, 2016
James Casebere verhandelt in seiner Arbeit offen die semiotischen Beziehungen zwischen Bild, Identifikation und Ideologie. Sein Bildrepertoire schöpft sich aus seiner sozialen, kollektiven Bildwelt, er zitiert architektonische Formen, setzt Referenzen zur Kunstgeschichte und Philosophie. Caspar David Friedrichs Eismeer, Foucaults Panoptikum, die Lichtgestaltung des expressionistischen Films – James Casebere bedient sich eines weiten Feldes gemeinschaftlicher Bilderinnerungen. Seine fotografischer Ansatz weist dabei weit über die reine Abbildung hinaus. Seine Bilder sind weniger Dokument der Realität, als eine kritische, reflektierte Konstruktion von Bildräumen und des kollektiven Unterbewussten. Filmische und architektonische Elemente werden dabei vermischt.

Bild: James Casebere, Sea of Ice, 2014, Collection of Santiago Sepulveda and Gloria Cortina, Vail, CO, Courtesy: the artist and Sean Kelly, New York
Die im Haus der Kunst gezeigte Retrospektive ist thematisch und stilistisch sehr breit angelegt. Gezeigt werden unterschiedliche Arbeiten, von frühen Bildern aus den 1970er-Jahren bis hin zu aktuellen Positionen. Große ein- und mehrteilige Farbfotos, schwarz-weiße Silbergelatine-Abzüge, im Farbausbleichverfahren hergestellte Drucke, wasserlose Lithografien. Außerdem macht der Künstler in der Ausstellung zum ersten Mal sein persönliches Archiv für die Öffentlichkeit zugänglich: Zu sehen sind Skizzen,Polaroids und Notizen aus vierzig Jahren, die seine Arbeitsweise und seinen künstlerischen Ansatz sichtbar machen.

Bild: James Casebere, Grandstand, 2016 , Courtesy the artist and Sean Kelly Gallery, New York, © James Casebere, 2016
Eigens für den großen Treppenaufgang der Ausstellungsräume im Haus der Kunst hat James Casebere eine ortsspezifische Serie produziert: vier großformatige Friese, die auf die politische Geschichte des Hauses als nationalsozialistischer Repräsentationsbau referieren und das für die Zeremonien des Regimes entworfene Zeppelinfeld in Nürnberg näher zu ergründen versuchen. Und auch hier legt er die Ideologie der Architektur mit den Mitteln der reflektierten Inszenierung und invertierten Dramatisierung frei.
WANN: Die Ausstellung ist bis zum 12. Juni 2016 zu sehen.
WO: Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, 80538 München.