Bis hierher und bitte weiter
Das Moabiter Kunstfestival Ortstermin 20

28. August 2020 • Text von

Kurz bevor die Hauptstadt mit der Art Week und dem Gallery Weekend so richtig in den Kunstherbst startet, glänzt bereits an diesem Wochenende das Moabiter Kunstfestival Ortstermin 20 mit spannenden Positionen und einem vielseitigen Programm, das von Ausstellungseröffnungen, Atelierbesuchen hin zu Performances reicht.

Ein großer durchsichtiger Luftballon in einem Ausstellungsraum

Ortstermin 20, bis hierher und nicht weiter, Utopie fortdauernder Sicherheit, Mark Swysen, © Kunstverein Tiergarten.

Eine Unsicherheit ist zu spüren. Die zweite Welle der Pandemie scheint sich langsam, aber doch sicher anzudeuten. Andere behaupten, sie sei schon wieder da. Das Virus hat die Menschen weltweit in seine Schranken gewiesen. Grenzen wurden geschlossen, sind bis dato teilweise immer noch zu. Was haben gerade diese räumlichen Einschränkungen oder das Infektionsschutzgesetz, das erlaubt Menschen “abzusondern”, mit unserer Gesellschaft gemacht? Wie spiegelt sich diese Grenzerfahrung im Werk Kreativschaffender wider? Hierauf versucht das Moabiter Kunstfestival, Antworten zu finden. Unter dem diesjährigen Motto “bis hierher und nicht weiter. this far and no further” lud die Festivalleitung beinahe 200 KünstlerInnen ein, die sich in ihren Werken kritisch mit momentanen Grenzen auseinandersetzen – solchen, die uns die Pandemie auferlegt, aber auch denjenigen, die eine Gefahr für das ökologische Gleichgewicht wie die soziale Gerechtigkeit bedeuten.

Blick in einen beige gehaltenen Raum

Ortstermin 20, bis hierher und nicht weiter, You need to be nicer, Silke Schwarz © Kunstverein Tiergarten.

Auf letztere geht die vielschichtige Installation “You need to be nicer” der in Berlin lebenden Konzeptkünstlerin Silke Schwarz ein, die im Rahmen der Hauptausstellung im Kunstverein Tiergarten zu sehen ist. Schwarz macht in darin auf eine diesjährige Studie der UN zur Geschlechtergerechtigkeit aufmerksam, die ermittelte, dass neunzig Prozent der Menschen weltweit Vorbehalte gegenüber Frauen zeigen. In weißer Neonschrift erstrahlt der Titel der Installation über zwei sich kontinuierlich zum Jingle von Whitney Houstons “I’m Every Woman” drehender Podeste. Die Hauptausstellung “bis hierher und nicht weiter. this far and no further” bietet neben medial weitreichenden Positionen von Catherine Lorent oder Fadi Al-Hamwi ein abwechslungsreiches Programm an Videoscreenings in einem Fenster der Galerie Nord sowie Performances wie “The Crossing” von Rafał Dziemidok und Kacper Lipiński.

Installation ANGORA von Gunter Unterbuttre. Weiße Maschine mit vier Händen.

Günter Unterburger, AGORA I © BAECKEREI.

Wie Schwarz setzt sich auf ähnlich ästhetisch ansprechende Weise der Künstler Günter Unterburger in seiner Installation “AGORA” mit Fragen nach sozialen Grenzen auseinander. “AGORA”, ausgestellt in der BAECKEREI, ist eine aus dem Jahr 2001 stammende, aktive Apparatur, die den Handlungsimpuls der Handwaschung thematisiert. Beinahe prophetisch lässt sich Unterburgers Werk heute lesen, wird doch in Zeiten der Pandemie die andauernde Reinigung und Desinfektion der Hände, sowie auch das Ablehnen eines Handschlages ad absurdum geführt. “‘AGORA’ zitiert Reinigungsprozesse, stellt Fragen nach der Körperlichkeit. Der Prozess der Reinigung kann sich durch die ständige Benutzung, die sich sammelnden Berührungen der einzelnen Benutzer im Medium des zirkulierenden Wassers zu einer Gefahr der Kontamination wandeln”, so Unterburger.

Zwei Menschen hinter einem Maschendrahtzaun.

Ortstermin 20, bis hierher und nicht weiter, Quadrant, Michael Wolke, © Kunstverein Tiergarten.

“bis hierher und nicht weiter. this far and no further” bietet thematisch den Rahmen, um sich mit bestehenden politischen und kulturellen Grenzen, auch Begrenzungen auseinanderzusetzen. Die Intention des Moabiter Kunstfestivals steht konträr unter einem ganz anderen Stern. Denn Ortstermin 20 will gerade Schranken überwinden − in Zeiten der Pandemie einen Ort des kulturellen Austausches schaffen, der nach Monaten der Onlinepräsentation essentieller erscheint denn je. So sehen es auch die Betreiber des Projektraums Kurt-Kurt, Pfelder und Simone Zaugg: “Seit vierzehn Jahren steht Kurt-Kurt als Ort der Begegnung von Kunst und Alltag, Stadtraum und Projektraum, internationalem Kunstpublikum und Anwohnern. Das Kunstfestival Ortstermin ist in diesem Sinne ein essentieller Bestandteil unserer Arbeit und unseres Vermittlungsprogramms.” Netzwerkbildung steht dabei genauso im Vordergrund: “Es geht uns bei unseren Aktivitäten um den lokalen Blick mit internationaler Wirkung und um den internationalen Blick mit lokaler Wirkung. Dieses Jahr steht für uns das lokale Netzwerk in Moabit im Fokus.” Im Rahmen von Ortstermin präsentiert Kurt-Kurt eine Auswahl von KünstlerInnen, die alle auf der Insel Moabit wohnen, wie MarK Le Ruez, Heather Allen oder Katharina Grosse und zeigt teils für die Ausstellung neu konzipierte Arbeiten.

Ein Bildschirm, der auf einem Boden steht, umgeben von Scherben.

Ortstermin 20, bis hierher und nicht weiter, Scherben, Steffi Weismann + Çigdem Üçüncü, © Kunstverein Tiergarten.

Auch wenn es ein Segen ist, die Moabiter Kulturszene unterstützen zu können, äußern sich Wünsche bei den teilhabenden VeranstalterInnen, dies gerade die Berliner Kulturpolitik für den Bezirk Mitte betreffend. Zaugg und Pfelder erhoffen sich dahingehend “einen finanziellen Spiel- und Handlungsraum, um mit unserer künstlerischen und kuratorischen Arbeit im Kurt-Kurt zentrale Themen gemeinsam während eines von der Kunst ausgehenden Dialogs zu erarbeiten”. Ähnlich äußert sich Silke Schwarz: “Es ist wichtig, dass Ausstellungsräume und Ateliers in Berlin Mitte erhalten und somit auch bezahlbar für den Berliner Kultursektor bleiben. Es braucht mehr Mut und Entschlossenheit zur Kultur, um gerade Berlin Mitte nicht flächendeckend Großinvestoren zu überlassen.” Mut und Entschlossenheit sind vonnöten, sich diesem Vorhaben anzunehmen. Denn nur gemeinsam operierend in fortdauerndem Austausch findet kulturelle Zusammenarbeit statt. Ohne Grenzziehung. Die Pandemie mag uns das Händegeben versagen, aber streitbare Grenzen wie bezahlbare Flächen für den Berliner Kultursektor zu erkämpfen, lassen sich nur durch einen gemeinsamen Einsatz und das Stattfinden zukünftiger Ortstermine realisieren, sodass es am Ende in keinem Fall heißt “bis hierher und nicht weiter”, sondern “bitte weiter”.

WANN: Das Festival eröffnet am heutigen Freitag, den 28. August, ab 18 Uhr im Hof des Berlin-Kolleg hinter der der Galerie Nord|Kunstverein Tiergarten mit einer Begrüßung. Weitere Eröffnungen sind hier unter mit * gekennzeichneten Orten zu finden.
WO: Die einzelnen Festivalorte sind hier aufgelistet.

In freundlicher Zusammenarbeit mit Ortstermin 20. 

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