Officecore
“System Down? State of Affairs“ bei Klemm's

15. November 2021 • Text von

In der Gruppenausstellung “System Down? State of Affairs“ bei Klemm’s tangieren die gezeigten Videoarbeiten umfassende weltpolitische Themen. Dabei haben sich die Galerieräume in ein leeres Büro verwandelt, das gar nicht so bieder ist, wie es scheint.

Installationsansicht, “System Down? State of Affairs“, 2021, Klemms. Courtesy the artists and Klemm’s.

Officecore liegt irgendwo zwischen Corporate Ästhetik und betongraufarbener Eintönigkeit ­– oder auch Merkelcore, wie Mathias Warkus es nennt, – und subversiven (DIY) Basics, die y2k Teenager von Tik Tok aus Mugler (SS 2020), Nensi Dojaka, Hyein Seo, Helmut Lang & Co entwickelt haben. Merkelcore definiert der Erfinder des Begriffs, Mathias Warkus, als “die Feier der konfliktarmen deutschen Mittelmäßigkeit“. Auch wenn Merkels notorisch biedere Blazer an gelangweilte Büroarbeiter:innen hinter schmutzig weißen Plastiktrennwänden erinnern, ist Merkelcore dann vielleicht doch am entfernteren Ende von dem, was Officecore ist. Deutsch ist es nämlich nicht unbedingt und konfliktarm schon gar nicht. 

Die Galerieräume von Klemm’s, wo aktuell die Gruppenausstellung “System Down? State of Affairs“ zu sehen ist, könnten gerade nicht geeigneter als Ort für das Stattfinden lassen von Officecore sein. Gegenüber der Galerie, deren Eingang sich auf einem gewerbeähnlichen Hinterhof befindet, ist auf der anderen Straßenseite das Bürogebäude einer Digitalagentur. Die Räume von Klemm’s sind mit einem blaugrauen, vermutlich preisgünstigen Teppich ausgelegt. Darauf befinden sich ebenso graue Tische, aber in einem weniger bläulichen Ton, auf denen mehrere Desktops stehen. Kombiniert werden sie mit schwarzen Bürostühlen – diejenigen, auf denen man immer besonders schnell und ausgiebig weiße Flecken sieht –, einem Metallspind und elfenbeinfarbenen Lamellenvorhängen.

Installationsansicht, “System Down? State of Affairs“, 2021, Klemms. Courtesy the artists and Klemm’s.

Im Pressetext der von Olaf Stüber kuratierten Ausstellung wird von den Räumlichkeiten eines insolventen Start-up-Unternehmens oder einer verlassenen Behörde, deren Mitarbeiter:innen sich im Homeoffice befinden, gesprochen. Auf den Desktops sind aber keine Excel-Tabellen zu betrachten, sondern Videoarbeiten von acht verschiedenen Künstler:innen. 

1522 steht in großen Zahlen auf einem der Bildschirme, bevor man das Video per Mausklick aktiviert und Lucy Beechs Video “1522-1924“ anfängt, zu spielen. Im Stil von Gerichtszeichnungen zeigt das Video Tiere, die mit dem menschlichen Gerichtssystem konfrontiert werden, z.B. ein Schwein, das Schlüsselzeuge in einem Verfahren im kolonialen Neuengland ist. Das Video spielt mit den vom Menschen künstlich konstruierten Grenzen zwischen Menschen und Tier und wie diese Kategorien stetig reproduziert werden. Beech zeigt eine Reihe an historischen Gerichtsverfahren, beginnend im Jahr 1522. 

Installationsansicht, “System Down? State of Affairs“, 2021, Klemms. Courtesy the artists and Klemm’s.

Laut dem Wikipedia-Artikel des Jahres 1522 fand zu dieser Zeit übrigens der Ritterkrieg in Süddeutschland statt und beim Wiener Neustädter Blutgericht wurden führende Mitglieder der Ständeopposition hingerichtet. Von Blut schreibt auch die Klatschzeitung, die auf einem Glastisch am Eingang der Galerie liegt. “Reden ist nicht immer die Lösung“ heißt die Zeitung, die eigentlich der Ausstellungskatalog einer Einzelausstellung im Martin-Gropius-Bau des Film- und Videokünstlers Omer Fast war. Die Schlagzeile lautet: “Omer Fast. Ist er Ein Blutsauger?“ Ist (deutsche) Mittelmäßigkeit aka. Merkelcore Boulevardzeitungen während der Leberkäs-Semmel-Pause lesen? Vielleicht handelt es sich dabei eher um Münchencore oder Bayerncore oder Oktoberfestcore.

Installationsansicht, “System Down? State of Affairs“, 2021, Klemms. Courtesy the artists and Klemm’s.

“System Down? State of Affairs“ reißt große weltpolitische Themen an: Die gezeigten Arbeiten tangieren Klimakrise, Armut, Rassismus, Gewalt, Wirtschaftskrisen und Pandemie. Vor Konflikten scheuen sich die Künstler:innen im Gegensatz zu Merkelcore nicht. In dem Video “Shell Revolution“ von Ho Rui An wird die Evolution des Shell Logos dargestellt, das sich von einer naturalistisch aussehenden Muschel zu dem heute graphisch, abstrahiertem Symbol entwickelt hat. Neben der offensichtlichen Problematik von Erdölkonzernen tangiert die Arbeit auch wie kapitalisierte Logos (vor allem westliche) Gesellschaften beeinflussen. Dem wirkt Officecore entgegen: Statt mit Logomustern wird mit dekonstruierten Basics, die ein biederes Bürotum plötzlich anziehend machen, gearbeitet. In dem Kontext sollte aber auch – nicht konfliktarm – gefragt werden, wie diese Art von Ästhetisierung prekärer, kapitalistischer Arbeitsumstände dazu beiträgt, diese im Endeffekt nur zu reproduzieren. 

WANN: Die Ausstellung “System Down? State of Affairs“ ist noch bis zum Samstag, den 18. Dezember, zu sehen.
WO: Klemm’s, Prinzessinenstraße 29, 1096 Berlin

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