Künstlerische Produktivität in der Krise
Ivan Murzin über das Sisyphus Museum und die Paradoxien der Bratpfanne

28. Januar 2021 • Text von

Ivan Murzin war es schon während des ersten Lockdowns vergangenen März ein Anliegen, weiterhin Kunst zu machen und vor allem zu zeigen. Er entwickelte die mobile Ausstellungsinstitution Sisyphus Museum, die er mit wechselnden Miniaturausstellungen durch die Stadt schieben kann. In den Ausstellungen zeigt der in Frankfurt lebende Künstler seine eigenen neu entstandenen Werke. Kunst im öffentlichen Raum und gleichzeitig Museum sozusagen – im Interview erzählt uns der Städelschule-Absolvent was es mit dieser Mischung auf sich hat und warum er Kakao lieber in Chili sin Carne als im Pudding mag.

Sisyphus Museum mit dem geschlossenen Historischen Museum in Hintergrund. April 2020. Photo: Ivan Murzin & Olga Inozemtceva-Appel

gallerytalk.net: Das Sisyphus Museum scheint eine Mischung aus einem kleinformatigen Museum und Kunst im öffentlichen Raum zu sein. Was bedeutet der Begriff „Museum“ in diesem Kontext für Dich?
Ivan Murzin: Du hast recht, es ist beides. Zum einen zeigt das Sisyphus Museum für sich stehende Ausstellungen und zum anderen ist es eine Art performativer Akt, es während des Lockdowns durch die Stadt zu schieben. Wenn Passant*innen auf das Museum stoßen und hineinschauen, sehen sie relativ konventionelle Ausstellungen, nur eben in einem kleineren Format.

Du nennst es bewusst Museum – warum „Sisyphus“ und warum „Museum“?
Als Galerien, Off-Spaces und Museen geschlossen wurden und alles plötzlich stillstand, habe ich beschlossen, eine mobile Institution zu bauen und weiterhin Ausstellungen zu machen. Für mich war es wichtig, meine künstlerische Praxis fortzusetzen, um produktiv auf die Situation zu reagieren. Wie Sisyphus, der den Felsen stetig weiterrollt, zeigt dieses Museum weiterhin Kunst. Ein weiterer Grund ist, dass ich in schwierigen Zeiten gerne den Essay “Der Mythos von Sisyphos” von Albert Camus lese. Er schreibt über das “absurde Leben”, und einer der Akteure dieses beschriebenen Lebens ist ein Künstler. Daraus entstand der Name Sisyphus Museum.

Ivan Murzin schiebt sein Sisyphus Museum durch Frankfurt am Main.
Sisyphus Museum. Frankfurt am Main, 2020. Photo: Cudelice Brazelton.

Das klingt so, als hätte sich in diesem Zusammenhang auch der Prozess des Ausstellungsmachens verändert. War es für Dich die logische Konsequenz während des ersten Lockdowns, eine Möglichkeit zu kreieren, Ausstellungen und Kunst in einem anderen Rahmen weiter stattfinden zu lassen?
Eine Ausstellung in einer größeren Institution zu machen, erfordert normalerweise viel Zeit, Ressourcen und involviert viele Menschen. Es dauert Monate, manchmal Jahre. Das letzte Jahr mit all den Veränderungen erforderte eine Reaktion in einem anderen zeitlichen Rahmen. Im Sisyphus Museum kann eine Ausstellung viel schneller zusammengestellt werden und so gleichzeitig die Veränderungen unserer Gegenwart reflektieren. Kurzum: wirklich zeitgemäß sein. Ich hatte die Idee, habe sie konkretisiert  und gab ihr eine Chance. Die ersten Ausstellungsfahrten haben ganz gut funktioniert, also habe ich weitergemacht. Das löste wiederum neue Ideen aus und ich habe mich weiter mit verschiedenen Aspekten der neuen Lebensrealität beschäftigt, mit der wir konfrontiert wurden. So wurde das Museum nach einiger Zeit zum Hauptprojekt des Jahres 2020 für mich.

Du hast also ziemlich schnell auf die Veränderungen in unserem Alltag reagiert, während viele von uns erst einmal verarbeiten mussten, was es für Kunst und Kultur bedeutet, dass Ausstellungen und Museen nicht zugänglich sind. Wie hast Du es erlebt, Kunst außerhalb von etablierten Institutionen und im öffentlichen Raum zu präsentieren?
In meiner Situation gingen das Verarbeiten der Situation und die Entwicklung des Projekts Hand in Hand. Kunst draußen zu präsentieren ist eine andere Sache als in Institutionen. Die meisten Betrachter*innen stoßen zufällig auf das Sisyphus Museum und nicht mit der Absicht, die Ausstellung zu sehen. Das Sisyphus Museum hat keine feste Route oder gar Öffnungszeiten. Es hängt von der Wetterlage ab, von meinem Zeitplan und einfach davon, ob ich heute mit dem Museum in die Öffentlichkeit gehen möchte. Stell Dir vor, Du gehst wie immer die gleiche Strecke von zu Hause zum Einkaufen und triffst dabei zufällig auf eine seltsame mobile Kunstinstitution mit einer Ausstellung. Sagen wir, die Ausstellung handelt von der Geschichte der Bratpfanne und den Paradoxien des Materials. Außerdem thematisiert sie den kulturellen Aspekt der Pfanne in der Gegenwart, wobei die Auswirkungen alltäglicher Objekte auf die Menschen in einer durch die Pandemie geschrumpften Welt im Mittelpunkt stehen. Nach diesem Treffen wirst Du vielleicht auf diese Gedanken zurückkommen, wann immer Du eine Pfanne in der Hand hast. Ich mag diese Wendepunkte des Projekts.

Die Pfannen-Ausstellung "Between fire & fare" in Ivan Murzins Sisyphus Museum.
Between fire & fare. Sisyphus Museum. Frankfurt am Main, 2020. Photo: Ivan Murzin.

Du hast gerade die letzte Ausstellung im Sisyphus Museum “Between fire & fare” angesprochen. Mir gefällt, was du über diese Wendepunkte des Projekts sagst. Ich habe mich gefragt, ob Du Dich selbst als Künstler siehst, der ein großes Projekt bestehend aus vielen kleinen konzipiert, oder auch in gewisser Weise als Kurator?
Langfristig ja, man kann die meisten meiner Arbeiten als Teil eines groß angelegten Projekts sehen. Nicht nur die Arbeiten, sondern auch mein persönliches Leben mischt sich teilweise in diese Projekte. Ich würde es als eine Reise mit hunderten von Elementen beschreiben, die gemeinsam ein ganzes Rhizom bilden. Der Entwicklungsprozess basiert auf meinen persönlichen Umständen und Erfahrungen. Meine Zusammenstellungen sind also untrennbar mit meinem Leben und meiner eigenen Reise als Künstler verwoben. In der Zwischenzeit trage ich Arbeiten für konkrete Ausstellungen zusammen, manchmal dekonstruiere ich die Arbeiten wieder oder füge sie als neue Sequenz zu einem meiner Projekte hinzu. Alles kann Material für ein Kunstwerk sein, und ein Kunstwerk kann wiederum Material für ein größeres Kunstwerk sein.

Ausstellungsansicht mit Ivan Murzins Arbeiten im Rahmen von "Air Conditioned - Graduate Exhibition" der Städelschule.
Silence belongs to islands. Air Conditioned – Graduate Exhibition. Städel Museum. 2019. Photo Ivan Murzin.

Meinst Du in diesem Sinne ein Rhizom, das aus all Deinen Projekten besteht oder eines, das die für sich stehenden Projekte beschreibt?
Jedes Projekt ist in sich abgeschlossen. Gleichzeitig kann man, wenn man die gesamte Praxis sozusagen von oben betrachtet, sehen, wie sich einige Teile eines Projekts mit Teilen anderer Projekte verflechten. Zum Beispiel hat die jüngste Ausstellung im Sisyphus Museum “Between fire & fare” auch mit der Geschichte “Eduard Teachev” zu tun, die ich vor fünf Jahren gemacht habe. Das Projekt über die Marschinseln Halligen zeigt eine andere Perspektive auf dieselben Fragen, die ich mit dem Projekt “A world without latitude and longitude” über die sibirische Landschaft aufgeworfen habe. Ein springender Delphin in einer Ausstellung des „Sisyphus Museums“ ist eine Antwort auf das nun ausschließlich online stattfindende Kopenhagener Fotofestival, bei welchem ich teilnehme. Jedes neue Projekt hat Verbindungen mit einem alten – das Rhizom beschreibt also diese Gesamtheit und Verwobenheit aller meiner Arbeiten, die im Laufe meines Lebens entstanden sind und entstehen.

Ausstellungsansicht von Ivan Murzins Sisyphus Museum.
Figuring the key: Remixing codes after the peak. Sisyphus Museum. Frankfurt am Main, 2020. Photo: Ivan Murzin.

In diesem Zuge ist mir aufgefallen, dass jede Ausstellung des Sisyphus Museums verschiedene Medien enthält, zum Beispiel Fotografien, Skulpturen oder Video. Arbeitest Du in Deiner Praxis oft mit verschiedenen Medien? Welche Rolle spielt die Verbindung dieser verschiedenen Medien für Dich?
Am Anfang war die Fotografie ein großartiges Medium, um meinem Verlangen gerecht zu werden, die Welt um mich herum und das, was uns beeinflusst, zu verstehen und darauf zu reagieren. Nach einer Weile begann ich an die Grenzen des fotografischen Mediums zu stoßen, weil ich bestimmte Ideen mit ihr nicht realisieren konnte. Anstatt die Ideen also in das vorhandene Medium zu pressen und so Kompromisse einzugehen, begann ich mit Experimenten mit verschiedenen anderen Methoden. Nach jahrelanger Praxis habe ich einen recht zufriedenstellenden „Werkzeugkasten“ an unterschiedlichen Medien für meine künstlerische Arbeit gesammelt. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass jedes Medium seine eigene Geschichte hat.

Wie meinst Du das?
Materialien verhalten sich ebenso individuell und haben assoziative Hintergründe. Dieses Sammelsurium an Werkzeugen und deren Bedeutungen erlaubt es mir, bei jedem neuen Projekt flexibel zu sein. Dies führt dazu, dass viele Arbeiten auf den ersten Blick sehr unterschiedlich aussehen. Dennoch sind sie durch Themen verbunden, die mich immer wieder berühren. Es gibt hunderte von Rätseln, versteckten Botschaften und Andeutungen, die die Arbeiten ebenfalls miteinander verbinden und so die Projekte durchdringen.

Ein Mann scheint vor einem Vogel wegzurennen.
Silence belongs to islands, Wassily (Day 4). 2019. Photo: Ivan Murzin & Gizem Gülcivan.

Und auch das Sisyphus Museum ist voll von diesen versteckten Botschaften. Du hast einmal zu mir gesagt, dass Humor für Dich eine Art Methode innerhalb Deiner künstlerischen Praxis ist. In etwa wie Gewürze für ein Gericht –  sie geben ihm den besonderen Kick, aber es ist immer noch die Kombination aller Zutaten, die das Gericht zu einem Ganzen macht. Welche Rolle spielt der Humor in Deiner künstlerischen Praxis?
In der Tat, die ganze Kombination ist wesentlich. Wenn der Humor alleine steht, ist er nur ein Witz. Aber man isst nicht nur Kreuzkümmel allein, er ist vielmehr Teil des ganzen Bündels von „Akteuren“ in einem Kochtopf. In Kunstwerken ist es dasselbe: Wir haben Diskurse, Erfahrungen, Sichtbares, Aussagen, verfügbare Ressourcen, Politik, Humor, Timing, Umstände – Eine Menge verschiedener Akteure, und ich mag ebenjene Polyphonie in meinen Arbeiten. Ein weiterer Aspekt ist die eigene Natur des Humors. Ich sehe ihn als eine Art Bruder der Poesie, denn beide haben keine rationalen Wurzeln und beide verleihen künstlerischen Werken ihre Einzigartigkeit. Wie ich bereits erwähnt habe, kann Humor ein Wendepunkt sein, aber ebenso die Poesie. Dennoch haben viele meiner Werke diese „Humorwürze“ nicht. Sie kommt mit einer gewissen Regelmäßigkeit, aber nur dann, wenn ich es für nötig halte oder aber, wenn ich nicht widerstehen kann, sie einzubauen. Es ist für mich ein Vergnügen, jemanden durch Humor in ein Werk hineinzuziehen und so die anderen Bedeutungsebenen des Werkes erfahrbar werden zu lassen! Eine kurze Anmerkung zum Geschmack: Ich bevorzuge Humor in Kunstwerken eher wie Kakao in Chili sin Carne und nicht wie Kakao im Pudding.

Studio-Ansicht Ivan Murzin.
Studio space with remains of the Sisyphus Museum, 2020.

Verstehe, Du bevorzugst die Gewürze, die unkonventionell erscheinen, aber den essentiellen Twist für ein Gericht darstellen! Nun eine letzte „organisatorische“ Frage: Bald eröffnet eine Retrospektive des Sisyphus Museums in der basis in Frankfurt. Ist das eine Art Abschlusspräsentation des Projekts? Kannst Du uns etwas über diese kommende Ausstellung erzählen?
Es ist eine Art Abschluss, bei welchem man das gesamte Projekte sehen kann: alle Kapitel, die im Laufe des Jahres im Sisyphus Museum in der Stadt gezeigt wurden. Viele Texte, aber auch Archivmaterial wie Fotos und Videos von den Happenings, eine Art Museumsdepot der Kunstwerke, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, aber nie draußen gezeigt wurden, und ein paar weitere Überraschungen. Die Besucher*innen können also in diesem vielschichtigen Material graben. Ich plane diese Ausstellung gemeinsam mit einer Kuratorin und Freundin von mir, Olga Inozemtceva-Appel. Die Eröffnung ist unklar, aber das Gute ist, dass ich nun noch ein paar Ideen im Sisyphus Museum verwirklichen kann, für die ich jetzt noch Zeit habe.

Wann genau Ivan Murzins Ausstellung in der basis stattfinden kann, ist noch nicht klar. Der Termin wird auf der Website des Sisyphus Museums sowie auf Ivan Murzins Instagram-Account bekanntgegeben.

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