Künstlerische Fußabdrücke
Jérôme Bels Beitrag zu Impulstanz

9. August 2019 • Text von

Der französische Choreograph Jérôme Bel und seine Company reisen nicht mehr mit dem Flugzeug. Beim Impulstanz Festival präsentiert er eine filmische Retrospektive und einen Text von John Cage. Eine Reflexion über individuelle Handlungsfähigkeit.

Jérôme Bel: Think Tank: Dance and Ecology. © Rio Rutzinger.

In welcher Beziehung stehen Tanz und Ökologie? Zum gemeinsamen Nachdenken über diese Frage hat der französische Choreograph Jérôme Bel beim diesjährigen Impulstanz Festival Künstler*innen, Tänzer*innen, Aktivist*innen und Besucher*innen zu einem Symposium eingeladen. Er versteht sie nicht konzeptionell oder symbolisch, sondern ganz konkret: Welche Auswirkung hat Tanz als ein in Institutionen stattfindendes kulturelles Ereignis auf die Umwelt – das Klima, die Atmosphäre, die Müllproduktion, und vieles weitere? Künstler*innen fliegen um die Welt, Material wird verschifft oder wenn das zu teuer ist, wird dasselbe Bühnenbild für jede Show neu produziert. Die internationale Tanz- oder Kunstszene agiert nicht ausschließlich in einem symbolischen Raum, sondern verursacht bei einer Flugreise ebenso CO²-Emissionen wie eine globale Finanzelite.

Jérôme Bel hat für sich entschieden, dass er nicht mehr mit dem Flugzeug reist. Dabei handelt es sich um eine persönlich Entscheidung, die immer mehr Menschen in den letzten Jahren treffen. Bel richtet den Spiegel jedoch nicht nur auf sich selbst als Privatperson, sondern auch auf seinen künstlerischen Output. So präsentiert er bei Impulstanz dieses Jahr außerdem seine aktuelle Arbeit „Rétrospective“, eine filmische Dokumentation von sechs seiner insgesamt 19 Performances. Vielleicht hat Jérôme Bel, der an diesem heißen Dienstagabend mit Shorts und Flip-Flops zur Premiere ins Wiener Akademietheater kommt, den USB-Stick mit der Filmdatei selber mitgebracht. Einen größeren Kontrast zu den über 30 Tänzer*innen des brasilianischen Balé da Cidade de São Paulo, die Ismael Ivo für vier Vorstellungen im Burgtheater einfliegen ließ, kann es kaum geben.

Jérôme Bel: The Show Must Go On. Copyright Foto: Laurent Philippe.

Dabei sind einige von Jérôme Bels Stücken nicht für wesentlich weniger Performer*innen, darunter auch „The Show Must Go On“ aus dem Jahr 2001, von der Ausschnitte in „Rétrospective“ gezeigt werden. Tänzer*innen in Alltagskleidung stehen im Halbkreis und bewegen sich zu David Bowies Song „Let’s Dance“- aber  immer während die titelgebende Aufforderung zum Tanzen zu hören ist. Grinsend werden zu „I like to Move it“ Arme, Ohren, Brüste, Füße und Penisse geschüttelt. Die kindliche Unbefangenheit dieses konzeptionellen Umgangs mit Tanz bringt das Publikum immer wieder zum Lachen, was in der filmischen Dokumentation zu einer Stimme aus dem Off wird und insbesondere bei den Szenen aus der Performance „Shirtology“ die Zuschauer*innen des Films zu Reflexion des eigenen Verhaltens anhält. Jérôme Bel bedient sich einer vermeintlichen Naivität, um Formen gesellschaftlicher Reglementierung und normative Einschränkungen der eigenen Ausdrucksfähigkeit sichtbar zu machen, die andernfalls unbemerkt bleiben. Zwischen der Individualisierung der Produktwelt und der Vermarktung der eigenen Individualität auf Social Media, erinnert die Performance daran, was es heißt „to dance like no one is watching“.

Neben der medialen Form, die Bel für den Film gewählt hat und die einen wesentlichen Teil der künstlerischen Setzung darstellt, und neben den eigentlichen Performances, ist ein Gestus des Zurückschauens und Vergegenwärtigens inhärenter Teil von „Rétrospective“. Dabei ist die Wiederholung von etwas bereits gesagtem, nie dasselbe wie die eigentliche Aussage. Hat das Gegenüber einen nur „akustisch nicht verstanden“, ist es eine Wiederholung in der Hoffnung diesmal gegen den Lärm anzukommen. Wird ohne Aufforderung eine vorherige Aussage wiederholt, impliziert es, dass Teile der Aussage dem Gegenüber bislang entgangen sind. Wiederholt man etwas für sich selbst, versucht man sich häufig etwas zu merken, um sich später daran erinnern zu können, oder man wiederholt etwas vergessen geglaubtes in der Freude sich endlich wieder daran erinnert zu haben. All diese Momente scheinen nicht nur in „Rétrospective“ auf, sondern auch in der dritten Veranstaltung, die Jérôme Bel zum diesjährigen Impulstanz-Sommer beiträgt.

Jérôme Bel: Lecture on nothing. © Jérôme Bel.

Im Schauspielhaus betritt Bel, erneut in Flip-Flops und Shorts, einen Tag später die Bühne, um einen Text von John Cage vorzulesen. Einführend sagt er ein paar Worte zu Cage, um sich dann an einen wackligen Tisch mit Leselampe zu setzen und die ausgedruckte Rede vorzulesen. Die Rede aus dem Jahr 1959 trägt den Titel „Lecture on Nothing“ und ist entlang einer rhythmischen Struktur aufgebaut – vier Takte pro Zeile, zwölf Zeilen pro Einheit des Textes. Die rhetorisch bestechende Reflexion beginnt mit dem Satz „I am here and there is nothing to say.“ Im Folgenden verschränkt Cage Eindrücke aus Kansas, aus Arizona, aus Texas in einer zirkulierenden, wie repetitiven Bewegung mit einer Beschreibung von Strategien, wie Form, Struktur und Material Nichts in eine künstlerische Arbeit verwandeln. In diesem Sinne endet der Text gefühlt mit einem Schmunzeln und dem Satz „All I know about method is that when I am not working I sometimes think I know something, but when I am working, it is quite clear that I know nothing.“ Die “Lecture on Nothing” zeigt das Nichts als ursprünglichen Sinnzusammenhang und gleichzeitig als erstrebenswertes Ziel. Doch was gilt es zu bejahen und was gilt es zu verneinen? Wachstum, Konsum, Besitz, Arbeit, Kontrolle und Ablenkung? Wie lässt sich ein Zustand der Indifferenz gestalten, wenn das Existieren nach Entscheidungen verlangt?

Wenn Jérôme Bel den Text vorliest, harmoniert der Cage’sche Minimalismus mit seinem eigenen Oeuvre ebenso wie mit der Entscheidung für ein ökologisch nachhaltigeres Leben. Bels Auftreten und die unprätentiöse Art den Text vorzulesen – mit einem französischen Akzent und sich selbst korrigierend, wenn er sich versprochen hat – ist äußerst sympathisch und tatsächlich auch authentisch. Bei ihm, der in Performances wie beispielsweise „Veroniqué Doisneau“ auch immer wieder einen kritischen Blick auf die Inszenierung von einzelnen Künstler*innenpersönlichkeiten geworfen, ist allerdings in diesem Punkt die Selbstreflexion folgenlos geblieben: Was bedeutet es, dass Jérôme Bel, Koryphäe des zeitgenössischen Tanzes, einen Text von John Cage, Gottvater der modernen Musik und der Tanzavantgarde der 1960er, bei Impulstanz vorträgt, dem größten Tanzfestival in Europa?

Es ist wichtig diese Frage zu stellen, um institutionelle Repräsentations- und Verwertungslogiken aufzuzeigen und zu kritisieren. Aber ab welchem Punkt entziehen Selbstreflexion und Selbstkritik Künstler*innen jede Handlungsmöglichkeit? Konsequenterweise dürfte Jérôme Bel nicht an Impulstanz teilnehmen, in Anbetracht des ökologischen Fußabdrucks des Festivals, das jedes Jahr ein ausgedrucktes Programmheft an seinen gesamten Kundenstamm verschickt und jedes verkaufte Ticket in einem Papierkuvert herausgibt. Aber würden wir alle unser Tun bis ins Letzte reflektieren und entsprechend Handeln, wäre die einzige Entscheidung nichts zu tun. Quod erat demonstrandum.

WANN: Das Impulstanz Festival endet am Sonntag, den 11. August 2019.
WO: Ein ausführliches Programm und eine Übersicht über alle Spielorte findet sich hier.

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