Konstruierte Wirklichkeiten "Joker" kuratiert von Julius Heinemann bei Jahn und Jahn
26. September 2020 • Text von Gast
Julius Heinemann ist ein Künstler, der eine detaillierte Wahrnehmung pflegt und auf seine künstlerische Arbeit überträgt. Seine präzise und zugleich offene Arbeitsweise setzt er aktuell eindrucksvoll in seinem ersten kuratorischen Projekt um, der Ausstellung „Joker“ bei Jahn und Jahn. Die Vielschichtigkeit seiner Arbeit lässt sich nicht auf den ersten Blick erfassen, sie zieht einen in die Ausstellung, überfordert an manchen Stellen und hinterlässt Spuren im Gehirn. Unsere Gastautorin Linn Born traf den Künstler.
Mein Gehirn freut sich immer, wenn es überfordert ist, dann muss ich entweder lachen, bin abgestoßen oder verwirrt und es darf sich mit dieser neuen Erfahrung weiterentwickeln. Julius Heinemann geht es in der Ausstellung bei Jahn und Jahn um den Kontext der Wahrnehmung und im Besonderen durch und mit den Mitteln der Malerei, um gesellschaftliche Prägungen, Codes, ein kollektives Verständnis, dem Spiel damit und der Hinterfragung davon.
gallerytalk.net: Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Jahn und Jahn in der Rolle des Kurators in diesem speziellen Kontext?
Julius Heinemann: Das Projekt entstand durch den regelmäßigen Austausch von Ideen mit meinem Galeristen Tim Geißler. Wir diskutieren oft über diverse künstlerische Ansätze und Mitte letzten Jahres sprachen wir über die Arbeiten von Caragh Thuring und Rasmus Nilausen. Ich schlug ihm vor, diese beiden Künstler*Innen, die viel gemein haben, und doch so unterschiedlich arbeiten, in einer Ausstellung zusammen zu bringen. Im Herbst 2019 kam Tim dann auf mich zu und fragte, ob ich Lust hätte, die Ausstellung mit ihm zu entwickeln.
Was hat dich daran gereizt einen Schritt aus deiner eigenen künstlerischen Arbeit heraus zu machen und eine Ausstellung für und mit anderen Künstler*Innen in einer Galerie zu konzipieren?
Der Schritt kam ganz natürlich. Das Denken mit und durch Bilder von anderen Künstler*Innen war schon immer Teil meiner Praxis. An der Malerei – meiner eigenen und der anderer – interessiert mich die Reflektion über Sprache, das Sehen, das Machen, letzten Endes die Wahrnehmung im Allgemeinen zu reflektieren. Das verbindet mich auch mit Caragh und Rasmus, die enge Freunde sind. Nun gab es einen konkreten Anlass, dies einmal in einem Ausstellungsprojekt auszuarbeiten. Auch wenn die ausgestellten Arbeiten vermeintlich keinen direkten Bezug zu meiner eigenen Arbeit haben, so teilen sie doch viele Ansätze – im Besonderen die Reflexion und Dekonstruktion des Mediums Malerei. Dass diese Ausstellung in einer kommerziellen Galerie stattfindet, liegt an der Offenheit und dem Interesse von Tim und der Galerie.
Deine eigenen Werke lassen immer Raum, um das Auge wandern zu lassen oder haben den Mut zur Ruhe. Bei “Joker” transportieren die Malereien der vier Künstler*Innen sehr viele Informationen und dies explizit. Die einzelnen Positionen verschwimmen dabei nicht, sondern heben sich gegenseitig, wie hast du das geschafft?
Als wir anfingen die Ausstellung zu konzipieren, fiel mir zufällig wieder ein Buch von Marcel Broodthaers mit der Dia-Projektion „Ombres Chinoises“ in die Hände. Die Arbeit besteht aus 80 Dias mit Abbildungen aus Comics, Illustrationen aus historischen und satirischen Büchern, Abbildungen von Foto-Anleitungen und einigen Aufnahmen die er selber anfertigte – Fotos mit dem Text „FOTOGRAFIEREN VERBOTEN“ auf deutsch, französisch und englisch. Diese Arbeit schien mir die perfekte Schnittstelle zwischen den Arbeiten von Rasmus und Caragh zu sein, sowohl thematisch als auch methodisch. Gleichzeitig stellt sie eine mediale Öffnung dar – es ist ja eine Slideshow. Und diese ermöglicht, die Reflexion und Dekonstruktion des Mediums Malerei in den anderen Arbeiten stärker herauszuarbeiten.
Arbeitet Troels Wörsel auch in diese Richtung?
Dessen Arbeit hat mir Tim in diesem Zusammenhang nahegebracht. Er arbeitete stark mit dem Verhältnis von Sprache und Bild und der Reflexion des Malens als ein Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit. Die Form der Ausstellung und die Hängung entstand dann in der Auseinandersetzung mit den einzelnen Arbeiten und den „Reflexionsmomenten“, welche die Diashow von Broodthaers bot.
Was war dein Ziel bei der Hängung der Ausstellung?
Mich interessiert, was zwischen den einzelnen Arbeiten entsteht. Diese Zwischenräume, diese Leerstellen, die das Gehirn automatisch füllt, beziehungsweise verknüpft, sind für mich das Leitmotiv der Ausstellung, das sich wiederum auch thematisch in einzelnen Arbeiten wiederfindet – die Ironie. Es geht nicht um Abbilder, sondern darum, wie wir Informationen zusammensetzen. Wie in der konkreten Poesie die einzelne Vokabel, der Laut, die Struktur und die Leerstelle als konstituierendes Moment verwendet werden, so sollte auch diese Ausstellung funktionieren. Da die Arbeiten einen großen Kosmos an Themen behandeln, wurde die Ausstellung sehr dicht. Im Grunde ist sie wie eine Große Mindmap in der man zwischen Momenten hin und her wandern kann. Was wir sehen und wie wir das, was wir sehen zuordnen, hat viel mit Kontextualisierung zu tun.
Als Kind lernen wir, dass ein Objekt – zum Beispiel ein Stuhl – eine gewisse Form hat und einen Nutzen. Dadurch, dass jeder eine ähnliche Definition von ‘Stuhl’ hat, erkennen wir auch andere Gegenstände als Sitzobjekt und setzen uns. Um ein gesellschaftliches Miteinander zu schaffen ist ein gemeinsamer Konsens zur Nutzung und Bezeichnung der Dinge unabdingbar. Stellt sich in dieser Ausstellung die Frage wie weit diese Kontextualisierung gehen darf?
Ja und Nein. Ich denke, dass die Ausstellung genau dort ansetzt, nämlich bei der Konstruktion von Wirklichkeit auf subjektiver Ebene und weiterführend in der Problematik der Kommunikation unserer Gedanken und Empfindungen, was ein sprachliches und somit gesellschaftliches Thema ist. Die dringlichste Frage für mich ist jedoch keine sozio-ökonomische, sondern eine philosophische: Was unterscheidet einen Stuhl von einem Foto von einem Stuhl von dem Wörterbucheintrag „Stuhl“, wie es Joseph Kosuth sehr schön in seiner Arbeit „One and Three Chairs“ 1965 auf den Punkt gebracht hat.
Sehr interessant im Kontrast zur menschlichen Kontextualisierung finde ich die Camera Obscura, die eine physikalische Gesetzmäßigkeit sichtbar macht. Ein Vorgang der immer, wenn wir mit dem Auge etwas sehen stattfindet. Rasmus Nilausen und du haben sich zu einem ähnlichen Zeitpunkt mit diesem Thema auseinandergesetzt. Du hattest 2016 eine fantastische Ausstellung „Prisma“ bei Projectos Monclova in Mexiko City mit einer live Camera Obskura und die Arbeit „Plusquam Perfectum (Past Perfect)“ von Rasmus Nilausen, die in der Ausstellung zu sehen ist, ist auch 2016 entstanden. Zufall?
Der Zeitpunkt ist Zufall – 2016 kannten wir uns noch nicht. Die Auseinandersetzung mit der Camera Obscura ist jedoch etwas, was uns verbindet. Eine Camera Obscura ist im Grunde die Nachbildung unseres Auges – in sehr vereinfachter Form – und zugleich das Grundprinzip jeder Kamera. Lichtstrahlen werden durch eine kleine Öffnung in einen dunklen Raum geworfen und so entsteht auf der gegenüberliegenden Seite eine Projektion dessen, was sich vor dem Loch befindet. Es ist ein optisches/physikalisches Grundprinzip.
Spannend wird es, wenn man sich diesbezüglich die Kunstgeschichte ansieht, denn mit der Entwicklung von Hilfsmitteln, wie z.B. Der Camera Lucida und später der Camera Obscura hat sich die malerische Darstellung der abgebildeten Situationen und Dinge verändert, und somit auch das Verständnis von dem was wir sehen und wie wir es sehen. David Hockney hat das in seinem Buch „Secret Knowledge“ übrigens beeindruckend herausgearbeitet. Dieses Zusammenspiel von optischen Phänomenen und ihrem Einfluss auf unsere Sehgewohnheiten, und wie es Zeitpunkte in unserer Kulturgeschichte markiert, interessiert mich. Und dieser Prozess geht mit jeder neuen Entwicklung weiter. Auch die Digitalisierung der Bildproduktion und der Touchscreen verschob und verschiebt weiter unser Verhältnis zu Bildern und zur Welt – erschafft neue Wirklichkeiten.
Wie frei sind wir in unserer Wahrnehmung?
Unsere Wahrnehmungsorgane sind unsere Schnittstelle zur Welt. Wir nehmen mit ihnen und durch sie wahr. Wir filtern Informationen und verarbeiten sie. Wir konstruieren unsere Wirklichkeit. Die Wahrnehmung der Welt ist dabei in keinerlei Weise stabil oder vollends begreifbar. Wir sind bio-chemische Wesen. Unser Hormonhaushalt bestimmt unter anderem, wie wir uns fühlen und wie wir Dinge wahrnehmen, ebenso wie unsere Erfahrungen in der Vergangenheit und unsere Projektionen in die Zukunft. Wir sehen, wir hören, wir tasten, wir verarbeiten, wir überdenken, wir träumen, wir halluzinieren, wir konstruieren … und versuchen stetig zu begreifen.
WANN: Die Ausstellung ist noch bis Samstag, den 10. Oktober, zu sehen.
WO: Jahn und Jahn, Baaderstraße 56 B und C, 80469 München.