Wege zum Über-Ich Jeremy Shaws Retro-Zukunft
5. Oktober 2020 • Text von Christina-Marie Lümen
Die Julia Stoschek Collection zeigt erstmals in Berlin die Videoarbeit “Quanitifcation Trilogy” des kanadischen Künstlers Jeremy Shaw. Found Footage trifft Real Life trifft Pixelsturm. Gesellschafts-Reflexion in der Ästhetik des Psychedelischen.
Bei Betreten der Ausstellung ergibt sich eine doppelt unbekannte Variable: Mit welchem Film beginnt man, und an welcher Stelle befindet sich dieser gerade. Bei einer durchschnittlichen Länge von 40 Minuten ist dieser Aspekt nicht zu unterschätzen. Wie der Name sagt, umfasst die “Quantification Trilogy” drei Filme, jeweils in unterschiedliche Zeiten der Zukunft gesetzt. Der Stil der Arbeiten greift auf die Bildsprache der 1960er, 1970er beziehungsweise 1990er Jahre zurück. Neben der Trilogie zeigt die Ausstellung Arbeiten aus der Serie “Towards Universal Pattern Recognition”. Die fotografischen Einzelportraits zeigen Personen im Zustand der Versenkung – Tanz, Gebet, wissenschaftliche Studie. Über den Bildern ist ein Prisma aus Glas angebracht, fokussierte Konzentration oder vice versa. Die Fotografien verbildlichen das Thema der “Quantification Trilogy”: Extase, Ästhetik und Selbst-Vergessen.
Nach Aussage des Künstlers gibt es keine vorgeschriebene Filmstruktur. Folgt man der architektonischen Ausstellungslogik, ergibt sich folgender Parcours. Versuch der Annäherung an ein großes Werk.
Episode I: “I Can See Forever”
40 Jahre in die Zukunft. 2033 hat das sogenannte “Spirituality Project” zum “Singularity Disaster” geführt. Der Einbau technischer DNA hat zu unerwarteten Konsequenzen auf Seiten der Testpersonen geführt. Die Eltern des Protagonisten Roderick waren Teil dieser Gruppe. Roderick besitzt auf Grund dessen stark erhöhte physische und kognitive Fähigkeiten.
Erstes Setting, die Wohnung Rodericks, in welcher Gym und Wohnzimmer aufeinandertreffen. Er benutze Meditation und Tanz als Wege zu Ekstase und Katharsis: “I can see forever.” Szenenwechsel: Das Labor eines Arztes, Roderick wird in eine Röhre geschoben, Aufnahmen seines Gehirns folgen. Alles wirkt vollkommen real, und ist doch gänzlich fiktiv. Zurück in Rodericks Wohnung, Interview mit seiner Tante. “And if eternity is not an endpoint but a continuity?” Sie fragt den Interviewer “Do you use the unit?” – “Yes, I use the unit.” -“That’s the thing, everybody uses the unit, everybody tries to get that feeling back.” Welches Unit, welches Gefühl? Sie beginnt zu singen, zu ihrem Voiceover werden Bilder von tanzenden Menschen eingeblendet, TV-Shows der 1990er Jahre, Derwische in Trance.
Dann eine weiße Halle, ein Tanzstudio. Roderick tritt ein, beginnt sich zu stretchen, dann zu tanzen. Musik: Softer Elektro. Seine fließenden Bewegungen sind klassisch, und doch frei; bis auf graue Socken und einen grauen Slip ist er vollkommen nackt. Das Bild geht in Slow-Motion, das Audio-Volumen steigt an, Spannung. Alles oder Nichts, krasse Synästhesie von Sound und Bildern. Letztere beginnen sich aufzulösen, ein digitales Rendering setzt an. Urzeit-Töne und Wärmeaufnahmen, ein seltsamer, vollkommen neuer visueller Eindruck. Die verbleibenden Figurenumrisse erscheinen in 3D, zum Greifen nah.
Plötzlich beginnt ein Vorwärts-Sog durch einen digital-abstrakten Tunnel, Zeitreise in Lichtgeschwindigkeit. Am Ende des Tunnels erscheint ein Sonnenuntergang auf dem Fernsehbildschirm der Wohnung Rodericks und seiner Tante. Back to where we started again.
Episode II: “Liminals”
Wieder laute Musik, unterschwellige Beeinflussung durch den starken Beat. Das Bild zeigt – was sonst? – tanzende Menschen, dieses Mal jedoch in einer Gruppe, Anklänge an Yoga-Riten und Schamanismus, Ästhetik der 1970er Jahre. Das Video wirkt visuell und emotional, ich werde eingezogen durch die Ekstase und Stimmung der Bilder. Ein erneutes Voiceover erklärt, “The Liminal” bezeichne einen Paraspace, welcher durch Technologie betreten werden und die vollkommene Verschmelzung des Physischen mit dem Virtuellen darstelle. Die nächste Stufe in der Evolution, Gattung: Homo, Art: Liminal.
Zum Ende des Videos wieder Pixel-Gewirr, die Konturen der einzelnen Figuren verfallen, zerfließen, verschmilzen. Visuelle Referenzen an die Abstraktionen Gerhard Richters, dann psychedelische Farbfelder à la Mark Rothko. “Our extinction is an inevitable certainty.”
Episode III: “Quickeners”
400 Jahre in der Zukunft. Die als “Revival” bezeichneten Zusammenkünfte der sogenannten “Quickeners” vereinen konvulsiven Tanz, Gesang, Gebet und Geschrei. Die Sammlung dieser Geisteszeremonie bezeichnet man als “Quickening”. Das Video besteht ausschließlich aus Found Footage der 1960er Jahre, Setting: somewhere in America. Ein Erzähler klärt auf, dass der Moment des Quickening jegliche Logik des messbaren menschlichen Daseins aufhebe. Verschiedene Zeugen werden zitiert:
“It’s the kind of feeling you get in both physical and mental ways.”
“The loss of the perception of space and time.”
“The moment in which I forgot everything, and remembered everything or even more.”
“Quantification Trilogy” ist keine direkte, Into-Your-Face-Kritik eines gesellschaftlichen Zustandes. Dennoch zeigt sie mit dem Finger auf Bereiche, die in einem gegenwärtigen nahezu vollständig durchrationalisierten Leben untergehen oder falsch laufen.
Auf die Bildeindrücke seiner Arbeit angesprochen erklärt Jeremy Shaw, dass jene den Versuch darstellen, eine psychedelische Erfahrung visuell auszudrücken. Das digitale “Data-Mashing” der Videos sei, “what came closest to it.” Ob die Referenzen auf frühere Bildoptiken hingegen einen versteckten Hinweis bildeten, dass wir, um die Zukunft zu verstehen und zu gestalten, in die Vergangenheit zurückschauen sollten? Eine mögliche Lesart. Vor allem jedoch sei der Rückgriff auf ältere Bildsprachen ein Mittel, die Betrachter*innen zu täuschen, Sicherheit und Wahrheit zu generieren, wo beides nicht gegeben ist. Die Ausstellung erhält damit ein doppelt auto-reflexives Moment, im Sinne einer Hinterfragung der eigenen Lebensweise und dem Verhalten als Betrachter*in. In Verbindung mit der herausragenden Ästhetik ergibt sich damit ein notwendiges Fazit: Genius.
WANN: Die Ausstellung “Quantification Trilogy” läuft noch bis Sonntag, den 29 November.
WO: Julia Stoschek Collection, Leipziger Straße 60, 10117 Berlin.