Wege zum Über-Ich
Jeremy Shaws Retro-Zukunft

5. Oktober 2020 • Text von

Die Julia Stoschek Collection zeigt erstmals in Berlin die Videoarbeit “Quanitifcation Trilogy” des kanadischen Künstlers Jeremy Shaw. Found Footage trifft Real Life trifft Pixelsturm. Gesellschafts-Reflexion in der Ästhetik des Psychedelischen.

Das Bild zeigt einen dunklen Raum an dessen Ende eine Leinwand angebracht ist. Auf der Leinwand ist in schwarz-Weiß ein Mann von der Hüfte aufwärts zu sehen, welcher seinen linken Arm zur rechten Bildseite ausstreckt. Der Gesichtsausdruck des Mannes ist aggressiv oder angespannt, er zeigt seine Zähne und scheint ruckartig den Kopf zu schütteln. Vor der Leinwand im Vordergrund des Bildes sind zwei Stuhlreihen zu sehen. Bei dem Foto handelt es sich um eine Ausstellungsansicht.
Jeremy Shaw, “Liminals”, 2017. Installationsansicht, JEREMY SHAW, QUANTIFICATION TRILOGY, JSC Berlin. Foto: Alwin Lay.

Bei Betreten der Ausstellung ergibt sich eine doppelt unbekannte Variable: Mit welchem Film beginnt man, und an welcher Stelle befindet sich dieser gerade. Bei einer durchschnittlichen Länge von 40 Minuten ist dieser Aspekt nicht zu unterschätzen. Wie der Name sagt, umfasst die “Quantification Trilogy” drei Filme, jeweils in unterschiedliche Zeiten der Zukunft gesetzt. Der Stil der Arbeiten greift auf die Bildsprache der 1960er, 1970er beziehungsweise 1990er Jahre zurück. Neben der Trilogie zeigt die Ausstellung Arbeiten aus der Serie “Towards Universal Pattern Recognition”. Die fotografischen Einzelportraits zeigen Personen im Zustand der Versenkung – Tanz, Gebet, wissenschaftliche Studie. Über den Bildern ist ein Prisma aus Glas angebracht, fokussierte Konzentration oder vice versa. Die Fotografien verbildlichen das Thema der “Quantification Trilogy”: Extase, Ästhetik und Selbst-Vergessen.

Das Bild zeigt eine Arbeit des Britischen Künstlers Jeremy Shaw. Die Arbeit besteht aus einer schwarz-weiß Fotografie, über welche ein massives Prisma aus Glas gelegt ist. Um Das Bild herum ist ein weißer Rahmen angebracht. Die Fotografie unter dem Prisma zeigt eine Person, die auf einen Bildschirm schaut, jedoch ist der Bildinhalt nicht genau zu erkennen. Die Arbeit hängt an einer Wand, bei dem Bild handelt es sich um eine Installationsansicht.
“Towards Universal Pattern Recognition” (“Space Odyssey” Jan 9 1982), 2019. Installationsansicht, JEREMY SHAW, QUANTIFICATION TRILOGY, JSC Berlin. Foto: Alwin Lay.

Nach Aussage des Künstlers gibt es keine vorgeschriebene Filmstruktur. Folgt man der architektonischen Ausstellungslogik, ergibt sich folgender Parcours. Versuch der Annäherung an ein großes Werk.

Episode I: “I Can See Forever”
40 Jahre in die Zukunft. 2033 hat das sogenannte “Spirituality Project” zum “Singularity Disaster” geführt. Der Einbau technischer DNA hat zu unerwarteten Konsequenzen auf Seiten der Testpersonen geführt. Die Eltern des Protagonisten Roderick waren Teil dieser Gruppe. Roderick besitzt auf Grund dessen stark erhöhte physische und kognitive Fähigkeiten. 

Das Bild zeigt den Körper eines Mannes vor weißem Hintergrund. Der Mann streckt sein linkes Bein senkrecht nach Oben, das linke und rechte Bein bilde eine nahezu gerade Linie. Der Oberkörper des Mannes ist zur linken Bildhälfte verlagert, mit der Brust in Richtung der Betrachter*innen. Der Mann scheint zu tanzen und ist bis auf einen grauen Slip und graue Socken nicht bekleidet. Im Hintergrund des Bildes ist ein vollkommen weißer Raum zu sehen, möglicherweise ein Tanzstudio. Die Struktur des Bildes ist leicht verpixelt, es handelt sich um ein Filmstill aus einem Video in VHS.
Jeremy Shaw, “I Can See Forever”, 2018. Videostill. Courtesy of the artist and König Galerie, Berlin.

Erstes Setting, die Wohnung Rodericks, in welcher Gym und Wohnzimmer aufeinandertreffen. Er benutze Meditation und Tanz als Wege zu Ekstase und Katharsis: “I can see forever.” Szenenwechsel: Das Labor eines Arztes, Roderick wird in eine Röhre geschoben, Aufnahmen seines Gehirns folgen. Alles wirkt vollkommen real, und ist doch gänzlich fiktiv. Zurück in Rodericks Wohnung, Interview mit seiner Tante. “And if eternity is not an endpoint but a continuity?” Sie fragt den Interviewer “Do you use the unit?” – “Yes, I use the unit.” -“That’s the thing, everybody uses the unit, everybody tries to get that feeling back.” Welches Unit, welches Gefühl? Sie beginnt zu singen, zu ihrem Voiceover werden Bilder von tanzenden Menschen eingeblendet, TV-Shows der 1990er Jahre, Derwische in Trance.

Das Bild zeigt einen dunklen Raum an dessen Ende eine Leinwand angebracht ist. Auf der Leinwand ist eine Art Tunnel aus nach hinten kleiner werdenden Quadraten in einem Neon-Blau zu sehen. Das Gebilde scheint sich zu bewegen. Vor der Leinwand im Vordergrund des Bildes sind mehrere Stuhlreihen zu sehen, bei dem Bild handelt es sich um eine Ausstellungsansicht.
Jeremy Shaw, “I Can See Forever”, 2018. Installationsansicht, JEREMY SHAW, QUANTIFICATION TRILOGY, JSC Berlin. Foto: Alwin Lay.

Dann eine weiße Halle, ein Tanzstudio. Roderick tritt ein, beginnt sich zu stretchen, dann zu tanzen. Musik: Softer Elektro. Seine fließenden Bewegungen sind klassisch, und doch frei; bis auf graue Socken und einen grauen Slip ist er vollkommen nackt. Das Bild geht in Slow-Motion, das Audio-Volumen steigt an, Spannung. Alles oder Nichts, krasse Synästhesie von Sound und Bildern. Letztere beginnen sich aufzulösen, ein digitales Rendering setzt an. Urzeit-Töne und Wärmeaufnahmen, ein seltsamer, vollkommen neuer visueller Eindruck. Die verbleibenden Figurenumrisse erscheinen in 3D, zum Greifen nah.

Plötzlich beginnt ein Vorwärts-Sog durch einen digital-abstrakten Tunnel, Zeitreise in Lichtgeschwindigkeit. Am Ende des Tunnels erscheint ein Sonnenuntergang auf dem Fernsehbildschirm der Wohnung Rodericks und seiner Tante. Back to where we started again.

Das Bild zeigt einen jungen Mann von der Brust aufwärts. Der Mann hat seine Arme in die Luft gestreckt, die Hände sind nicht im Bildrahmen enthalten. Er hat die Augen geschlossen und den Kopf ebenfalls leicht nach oben geneigt. Seine Augen sind geschlossen, sein Gesichtsausdruck scheint, als befände er sich in einer ekstatischen Situation. Am linken Bildrand ist licht im Hintergrund eine Frau zu sehen, welche in Körperhaltung und Gesichtsausdruck dem Mann stark ähnelt. Das Bild ist in Schwarz-Weiß.
Jeremy Shaw, “Liminals”, 2017. Videostill. Courtesy of the artist and König Galerie, Berlin.

Episode II: “Liminals”
Wieder laute Musik, unterschwellige Beeinflussung durch den starken Beat. Das Bild zeigt – was sonst? – tanzende Menschen, dieses Mal jedoch in einer Gruppe, Anklänge an Yoga-Riten und Schamanismus, Ästhetik der 1970er Jahre. Das Video wirkt visuell und emotional, ich werde eingezogen durch die Ekstase und Stimmung der Bilder. Ein erneutes Voiceover erklärt, “The Liminal” bezeichne einen Paraspace, welcher durch Technologie betreten werden und die vollkommene Verschmelzung des Physischen mit dem Virtuellen darstelle. Die nächste Stufe in der Evolution, Gattung: Homo, Art: Liminal.

Zum Ende des Videos wieder Pixel-Gewirr, die Konturen der einzelnen Figuren verfallen, zerfließen, verschmilzen. Visuelle Referenzen an die Abstraktionen Gerhard Richters, dann psychedelische Farbfelder à la Mark Rothko. “Our extinction is an inevitable certainty.”

Das Bild zeigt das Close-Up einer Frau, welche sich schnell im Kreis zu bewegen scheint. Ihre Haare befinden sich in der Luft, ihr linker Arm ist seitlich ausgestreckt. Ihr Gesichtsausdruck wirkt entrückt, sie scheint gedanklich nicht anwesend zu sein. Im Hintergrund sind verschwommen die Umrisse mehrerer Menschen, welche in einem Kreis zu sitzen scheinen. Die Konturen der Frau im Vordergrund sind bläulich gefärbt, das übrige Bild ist Schwarz-Weiß.
Jeremy Shaw, “Quickeners”, 2014. Videostill. Courtesy of the artist and König Galerie, Berlin.

Episode III: “Quickeners”
400 Jahre in der Zukunft. Die als “Revival” bezeichneten Zusammenkünfte der sogenannten “Quickeners” vereinen konvulsiven Tanz, Gesang, Gebet und Geschrei. Die Sammlung dieser Geisteszeremonie bezeichnet man als “Quickening”. Das Video besteht ausschließlich aus Found Footage der 1960er Jahre, Setting: somewhere in America. Ein Erzähler klärt auf, dass der Moment des Quickening jegliche Logik des messbaren menschlichen Daseins aufhebe. Verschiedene Zeugen werden zitiert: 

“It’s the kind of feeling you get in both physical and mental ways.”
“The loss of the perception of space and time.”
“The moment in which I forgot everything, and remembered everything or even more.” 

Das Bild zeigt einen Raum, in dessen Mitte ein massiver Pfeiler steht. Der Pfeiler ist von zwei Seiten zu sehen. Auf der linken Seite ist auf Augenhöhe ein Kunstwerk angebracht, über dessen Rahmen sich ein Prisma aus Glas befindet. Die rechte Seite wird durch eine wandfüllende Fotografie des Kopfes einer jungen Frau bedeckt. Im rechten Hintergrund des Raumes ist an der Wand eine Überschrift mit darunterlegendem Text angebracht, die Überschrift lautet: "Jeremy Shaw. Quantification trilogy". Bei dem Bild handelt es sich um eine Ausstellungsansicht aus der Julia Stoschek Collection Berlin.
“Towards Universal Pattern Recognition (Emotional Audience, Sept 5 1986)”, 2020, Archivarische Fotografie. Installationsansicht, JEREMY SHAW, QUANTIFICATION TRILOGY, JSC Berlin. Foto: Alwin Lay.

“Quantification Trilogy” ist keine direkte, Into-Your-Face-Kritik eines gesellschaftlichen Zustandes. Dennoch zeigt sie mit dem Finger auf Bereiche, die in einem gegenwärtigen nahezu vollständig durchrationalisierten Leben untergehen oder falsch laufen.

Auf die Bildeindrücke seiner Arbeit angesprochen erklärt Jeremy Shaw, dass jene den Versuch darstellen, eine psychedelische Erfahrung visuell auszudrücken. Das digitale “Data-Mashing” der Videos sei, “what came closest to it.” Ob die Referenzen auf frühere Bildoptiken hingegen einen versteckten Hinweis bildeten, dass wir, um die Zukunft zu verstehen und zu gestalten, in die Vergangenheit zurückschauen sollten? Eine mögliche Lesart. Vor allem jedoch sei der Rückgriff auf ältere Bildsprachen ein Mittel, die Betrachter*innen zu täuschen, Sicherheit und Wahrheit zu generieren, wo beides nicht gegeben ist. Die Ausstellung erhält damit ein doppelt auto-reflexives Moment, im Sinne einer Hinterfragung der eigenen Lebensweise und dem Verhalten als Betrachter*in. In Verbindung mit der herausragenden Ästhetik ergibt sich damit ein notwendiges Fazit: Genius.

WANN: Die Ausstellung “Quantification Trilogy” läuft noch bis Sonntag, den 29 November.
WO: Julia Stoschek Collection, Leipziger Straße 60, 10117 Berlin.

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