O(h), müssen wir reden?
Heiner Franzen bei Ebensperger

25. Juni 2021 • Text von

Reden ist ein Privileg. Genau so ist es die Entscheidung zum Schweigen. In seiner Einzelausstellung „WAKE“ bei Ebensperger spielt Heiner Franzen damit, Charaktere sprechen oder schweigen zu lassen. Er zeigt zudem, dass O nicht einfach nur der 15. Buchstabe unseres Alphabetes ist.

Heiner Franzen, WAKE, 2021, Videoinstallation, Sound, 7 Channels, Loop. Courtesy the artist and Ebensperger.

O oder 0? Auf einen flackernden, schwarzen Halbbogen, hinter einem kühl-sterilen Hintergrund, wird beharrlich heran- und herausgezoomt. Die halbrunde Linie oszilliert zwischen Weiträumigkeit und Enge – ist mal breiter, mal schmaler, nimmt mal mehr Raum ein, mal weniger. Heiner Franzens Video „Schreibfehler“ in seiner Einzelausstellung „WAKE“ in der Galerie Ebensperger, die ihren Berliner Space im Krematorium Wedding hat, ist ein Loop. Der Halbbogen hört an keinem Punkt auf, zu oszillieren. Es findet kein Entscheiden zwischen mehr oder weniger Raum einnehmen statt, auch nicht zwischen O oder 0 sein. Beides könnte gleichermaßen zutreffen – deswegen auch Schreibfehler. O und 0 sind typografisch zwar ziemlich verwechselbar, aber nicht austauschbar. 

Heiner Franzen, Schreibfehler, 2020, Video, Sound, Loop. Courtesy the artist and Ebensperger.

O oder 0? Vielleicht steht das O für einen tragischen Ausruf von Leid oder für ein verbales Zeichen überraschter Verwunderung oder für einen melancholischen Seufzer. Und die 0 stellt einen Neustart dar, ein alles Umwerfen und nochmal ganz von vorne anfangen – vielleicht kommt das ja nach dem tragischen O. Oder 0 steht für Gleichheit, dafür dass in einer idealen Vorstellung alle Menschen bei null anfangen. In der Mathematik ist 0 weder positiv noch negativ oder beides. 0 macht also in der Theorie keine Unterschiede, von ihr aus kann es in alle Richtungen gehen. Es kann in die Richtung gehen, Raum einzunehmen, seine Stimme zu nutzen, sich verbal zu behaupten und dadurch potentiell Autorität zu erlangen. Oder es wird die Richtung eingeschlagen, zu schweigen. Schweigen heißt natürlich aber nicht automatisch keine Autorität besitzen. 

Heiner Franzen, WAKE, 2021, Videoinstallation, Sound, 7 Channels, Loop. Courtesy the artist and Ebensperger.

Der lachsrosa, 3D-modellierte Kopf in der Videoinstallation „WAKE“ schweigt nicht. Die Worte des im Raum siebenfach vorhandenen Kopfes – projiziert auf mehrere Leinwände, die Wand und den Boden – sind Fragmente aus der Lobpreisung des Tötens des Schriftstellers Marquis de Sade, die der Schauspieler Patrick Magee im Film „Marat/Sade“ von 1967 vorträgt. Der Kopf in „WAKE“ erinnert kaum noch an Magee. Er erscheint als generisch, anonymes Gesicht. Die Augen sind lediglich mandelförmige Einkerbungen, die genau so lachsrosa wie der Rest des Kopfes sind. Er redet unter anderem von „solution“. Marquis de Sade, der seit über 200 Jahren tot ist, hatte eine Obsession mit Brutalität, Grausamkeit und Vulgarität. Seine Texte waren schockierend sadistisch. Vielleicht handelt es sich also doch um ein O des Schreckens, des Horrors, des Schauderns? Die Worte des Kopfes überlappen sich. Sie übertönen sich und sind dadurch stellenweise nicht verständlich. Trotzdem sind sie zweifellos eindringlich. Es wird eben nicht geschwiegen, sondern Autorität durch unermüdliche Verbalität entfacht. Das Gesicht hat das Privileg, zu reden und dieses Privileg beinhaltet auch automatisch das Privileg, sich für ein bewusstes Schweigen entscheiden zu können. 

Heiner Franzen, Face 2, 2021, Video, no Sound, Loop. Courtesy the artist and Ebensperger.

In einem weiteren Raum der katakombenartigen Ausstellungsräume von Ebensperger findet man eine weitere Videoarbeit von Franzen, der neben Video auch viel mit Zeichnungen arbeitet. „TysonTwin“ von 2017 zeigt ein dupliziertes Bild des afroamerikanischen ehemaligen Schwergewichtsboxers Mike Tyson. Die Mimik und Gestik sowie Bewegungen von Tyson wurden einem originalen Interview entnommen. Die beiden Bilder von Tyson agieren leicht versetzt voneinander. 

Heiner Franzen, Tyson Twin, 2017, Video, no sound. Courtesy the artist and Ebensperger.

Mike Tyson schweigt. Was wirkt sind seine Körperlichkeit, sein Ausdruck – nicht aber seine Stimme. Seine Stimme wurde entfernt. In der immersiven Installation „Wake“ ist man umgegeben von Sprache und Bildern und genau diese Kombination macht die Arbeit auch so allumfassend einnehmend. Man kann dem Kopf in „Wake“ nicht entkommen. Selbst wenn man die Augen schließt, ist er immer noch (hörbar) da. Im gesprochenen Wort liegt eine untrügliche Kraft. Wir können auf diese Weise klar ausdrücken, was wir denken, was wir fühlen, was uns stört, aber auch was wir positiv finden – selbst wenn es nur ein O ist. Was heißt es also, zu schweigen? Heißt es sich bei 0 zu befinden – weder positiv noch negativ oder beides zu sein? Heißt schweigen, neutral zu sein? Wie gehen Betrachter*innen mit einem schweigenden Tyson um? Hier herrscht fundamental mehr Spielraum für Imagination als bei dem 3D-modellierten Kopf, der durch seine Worte klarer in eine Richtung lenkt. Wir können in unserem Kopf erfinden, was Mike Tyson wohl in diesem Moment sagen würde. Wir können ihn uns selbst konstruieren, wobei er mit seiner Stimme nicht mitwirken kann. Vielleicht zeigt „Schreibfehler“ also doch ein melancholisch seufzendes O von Mike Tyson. 

WANN: Die Ausstellung „WAKE“ läuft noch bis Sonntag, den 22. August.
WO: Ebensperger, Plantagenstraße 30, 13347 Berlin.

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