Göttlich gotteslästernd
Gruppenausstellung "Divine" in der Galerie Neu

25. März 2021 • Text von

Divine oszilliert zwischen Tod, Ekstase, Göttlichkeit und Gotteslästerung. Divine ist Drag Queen und Protagonistin in Jean Genets Roman „Notre-Dame-des-Fleurs“. Sie ist Namensgeberin der Ausstellung in der Galerie Neu. Der Name ist Programm.

Installations-Ansicht "Divine", Galerie Neu.
“Divine”, Installations-Ansicht. © Jill Mullaedy, Marc Camille Chaimowicz, courtesy Galerie Neu, Berlin.

Ein akustisches Konglomerat aus schmerzlichen Gesängen, hoffnungserfüllten Schreien und begleitender Instrumentalmusik liegt im Raum. Die Quelle des ambivalenten Sounds ist visuell nicht erfassbar. Der Klang begleitet zunächst die Rezeption der ersten sichtbaren Arbeiten: Eine limonadenpinke Kniebank mit uringelbem Samtpolster von Marc Camille Chaimowicz – göttlich gotteslästernd. Das Polster von religiösen Kniebänken ist in Kirchen üblicherweise in einem prunkvollen Scharlachrot vorzufinden. Das befleckt aussehende, uringelbe Samtpolster in Chaimowicz‘ Objekt erinnert eher an eine der ranzigen Matratzen an Berliner Straßenecken. Ein so unreinlich erscheinendes Polster für eine Kniebank zu verwenden, auf der eigentlich zu Gott gebetet wird, grenzt schon fast an Gotteslästerung. Neben der Kniebank hängt ein Gemälde von Jill Mulleady, in dem sich drei Cobras mit giftgrünem Glorienschein und starrenden Augen aufrichten. Das letzte Werk im ersten Raum der Ausstellung ist eine vierteilige Collagenreihe aus der Männer und Frauen scharf heraus spähen. Die Quelle des nun leicht beunruhigenden Klanges ist immer noch nicht gefunden.

Installations-Anischt "Divine", Galerie Neu.
“Divine”, Installations-Anischt. © Tom Burr, Klara Lidén, Elle Peréz, Louis Fratino, courtesy Galerie Neu, Berlin.

Ein grau-salbeigrüner Anschlusskasten, dessen Beschichtung sich im Prozess des Entblätterns befindet, steht mittig im zweiten Ausstellungsraum. Die Quelle des pausenlos anhaltenden Sounds ist gefunden. Nein, nicht der Anschlusskasten von Klara Lidén. Ein Video von Kai Althoff mit dem Titel „Aber mich macht’s traurig“. Die schmerzerfüllten Töne stammen von einer zunächst nicht klar zu identifizierenden Person. Detaillierte Ausschnitte einzelner Körperpartien, vor allem der Haut, sind dafür umso klarer sichtbar. Die Haut ist wundig rot und wird unermüdlich rigoros weiter aufgekratzt. Es ist ein bedachtes Kratzen. Göttlich gotteslästernd? Die Szene wird von einer Spannung zwischen Heilung und Leiden durchzogen. Verweigert die Person bewusst das Heilen ihrer Wunden und lästert damit einen potentiellen Gott, der sie eigentlich heilen will, oder ist es ein selbstinduziertes, gottgefälliges Leiden, das eine Sünde bestrafen soll?

Video-Still Kai Althoff.
Kai Althoff, “Aber mich macht’s traurig”, 2020, unter der Regie von Janusz Breban, Video und Sound, 10:35 Minuten. © Kai Althoff, Janusz Breban, courtesy Galerie Neu, Berlin.

Die Ausstellung in der Linienstraße ist um den ersten Roman „Notre-Dame-des-Fleurs“ von Jean Genet zentriert. Divine ist Romanfigur, Drag Queen und Namensgeberin der Ausstellung. Genets Roman von 1943 entstand größtenteils im Gefängnis. Der Ausstellungstext von „Divine“ besteht aus einem Auszug aus dem Debütroman des französischen Autors: „Unter dem Kronleuchter blieb er stehen und kniete sich sehr zeremoniell auf einen mit Stoff ausgeschlagenen Betschemel. Seine Kniebeugen und Gebärden waren die getreue Nachahmung jener Bewegungen, die Albertos Schwester jeden Sonntag auf dem Betschemel ausführte.“ Deswegen also die Kniebank von Marc Camille Chaimowicz. Die göttlich gotteslästernde Kniebank, die zwischen gottgefälligem Anbeten, wie auf einer Kniebank üblich, und Gotteslästerung, in Form von Urin auf einer heiligen Bank, pulsiert. Die Ausstellung hinterfragt die Vorstellung vom unantastbar Göttlichen. Divine, die ihrem Namen nach wortwörtlich göttlich ist, ist dies trotz ihres vermeintlich gotteslästernden Lebensstils, der aus Sex mit diversen Geliebten besteht.  

nstallations-Ansicht "Divine", Galerie Neu.
“Divine”, Installations-Ansicht. © Jean Genet, Lisetta Carmi, courtesy Galerie Neu, Berlin.

Alle Werke der Ausstellung sind thematisch direkt oder subtil mit Genets Roman verknüpft. Unmittelbare Bezugspunkte zu Divine bilden die vier Fotografien aus der Serie „travestiti“ von Lisetta Carmi. Sie zeigen eine Drag Queen mit schreiend goldblonder Kurzhaarschnitt Perücke. Sie trinkt mit verdächtigem Blick Espresso an einer Bar und starrt die Betrachter*innen der Fotografie an – wie Mulleadys Cobras und die Menschen in den Collagen von Chaimowicz. In der vierten Fotografie befindet sich die Drag Queen in einem 60er-Jahre-Kaufhaus und blickt auf einen Kleiderständer voll pastellfarbener Mäntel. Sie stiehlt. Subtil, aber erkennbar. Das Motiv des Diebstahls zieht sich ebenfalls durch Genets Roman.

Malerei von Louis Fratino.
Louis Fratino, “Indigo Tom”, 2020, Öl auf Leinwand, 23 x 30,5 x 2,5 cm.

Ein kleines, aus diversen Blautönen bestehendes Ölgemälde, das an „Die Tragödie“ von Picasso erinnert, hängt vermeintlich unscheinbar aber inhärent ausdrucksstark in der rechten Ecke des Raumes. „Indigo Tom“ von Louis Frattino ist ein melancholisches Abbild eines schlafenden jungen Mannes, gehüllt in ein transzendentes Indigoblau, das von pfauenblauen Nuancen durchzogen ist. Blau wurde traditionell häufig für die Darstellung von göttlicher Transzendenz verwendet, wobei diese nicht zwingend religiös ist. Genau so stehen aber auch Weißtöne für (göttliche) Reinheit und Absolution. In dem monochromen, cremeweißen Gemälde von Ull Hohn, das zu einem Viertel von einer Plexiglasscheibe überzogen ist, wird diese Bedeutung ebenfalls realisiert. Die Monochromie saugt die Rezipient*innen auf. In dem Gemälde kann sich vollkommen verloren werden. Die Betrachtung besteht aus einem Erforschen der Subtilitäten des Cremeweißes, die von den kontinuierlichen, klagevollen Gesängen aus Althoffs Video untermalt wird.

Installations-Ansicht "Divine", Galerie Neu.
“Divine”, Installations-Ansicht. © Cerith Wyn Evans, Ull Hohn, courtesy Galerie Neu, Berlin.

Die Verbindung von Akustik und Visuellem in der Ausstellung der Galerie Neu ist ein sensuelles Gesamterlebnis. Der rote Faden, bestehend aus Divine, der Ambivalenz von Göttlichkeit und einer gleichzeitigen Kritik an dieser, zieht sich durch alle Werke. „Divine“ ist eine göttlich gotteslästernde Melange, die die starren Strukturen von der Vorstellung des Göttlichen aufweicht und die göttlich gotteslästernde Frage aufwirft: Kann alles und jede*r göttlich sein?

WANN: Die Ausstellung „Divine“ läuft bis Samstag, den 17. April. Die Galerie Neu kann mit vorheriger Anmeldung besucht werden.
WO: Galerie Neu, Linienstraße 119 abc, 10115 Berlin

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