Jugend färbt ab ¯\_(ツ)_/¯ Kunstfestival „Gegenwart: Doing Youth“
19. Juli 2021 • Text von Lara Brörken
„Gegenwart: Doing Youth“ hat beide Hände tief in bunte Farbeimer getaucht und die Farbe mit Schwung über Hamburg gesprenkelt. Überall waren Orte zu finden, an denen plötzlich Kunst passierte. So überraschend und überrumpelnd, wie die Jugend selbst, zogen Kunstwerke jeden Genres Besucher:innen in junge Gefühlswelten, in denen von jetzt auf gleich alles und nichts möglich schien.
Die Sonne prickelt auf der Haut, die Stimmung ist ausgelassen. Es ist Donnerstag, der erste Tag des Festivals. Eilenden Schrittes, weil natürlich etwas spät dran, haste ich in die Aula der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Mit dem Öffnen der Tür richten sich Blicke auf mich. Schnell zu einem leeren Stuhl und der Soundinstallation von Keira J Fox zuhören. Irgendwie verschwinden die positiven Vibes plötzlich. Geschrei und Geröll, feines Klirren und Schwerelosigkeit. Ist das Angst? Oder motivierte Rebellion? Die Soundlawine überrollt meine Gefühlswelt. Es klingt irgendwie heiß und kalt zugleich.
Ich gehe wieder raus auf die Grünfläche und mir wird klar, dass ich mich zurückversetzt fühle in eine Zeit, in der mein Leben von Zuspätkommen, Müde sein, Gefühlsschwankungen und Schulhöfen geprägt war. Auf dem Hof gibt es Zeit und Snacks, um anzukommen. Paula Erstmann, die fröhlich mit ihrem Lastenrad herumradelt und das Festival kulinarisch begleitet, frittiert Smashed-Potatoes und saure Gurken für Cold Dogs. Ihre selbstgemachten Leckereien machen Laune und lassen ihr Rad zum sozialen Treffpunkt werden, wie es früher der Kiosk neben der Schule war. Zaghaft kommt man ins Gespräch und erzählt sich, was man so macht. Ob ich schon beim Uhlandshop war? Äh nee. Da gibt’s den neusten heißen Scheiß? Alles klar, nice. Da geh ich hin, das will ich haben. Ich gehe durch den Park und denke an bunte Tüten, Center Shocks und was ich damals sonst so Cooles in mich reingestopft habe.
Im Uhlandshop bekomme ich dann die wohl schönste Chipstüte der Welt in die Hand gedrückt. Gefüllt hat das Tütchen die kulinarische Paula mit bunten Chips, gestaltet hat es Ella Fleck, deren analogen und digitalen Zeichnungen mehr Selbstbestimmung, Fantasie und Liebe fordern. Diese erste von drei Kiosk-Editionen weckt meinen Sammlergeist, der seit dem letzten gefüllten Paniniheft schlummerte. Drei Tage später bin ich stolze Besitzerin von drei Kunstwerken. Meine Sammlung ist mit einer Energydrink-Dose, auf der die talentierte Nachwuchs-Mangazeichnerin Nadine Janetzky Geschichten von hübschen jungen Hexenmädchen mit großen Augen, Fledermäuse und Kürbissen erzählt und dem Nussriegel eingewickelt in einer Zeichnung der Künstlerin Anna Haifisch in der ein Trailer Park in Flammen steht vollständig. So nebenbei: Ich tausche nicht.
Nächster Spot ist ein nahegelegener Spielplatz. Die Schuhsohlen der Gruppe knirschen auf dem Sand. Wir gucken neugierig um uns herum, suchen die Kunst. Ein riesiger Drache aus Holz lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, aber um ihn geht es nicht. Samantha Bohatsch löst sich leise aus der Gruppe und liest ihren Text „IMR“. Die Gruppe horcht auf, wird still, wendet sich ihrer feinen Stimme zu. Sie liest leise und fragil, wendet ihre Augen nicht von ihrem Smartphone ab. Plötzlich ist die Kunst da.
“Did you close your eyes and think about me like I think about you?”
We sit on the edge of the pool
Our legs in the water
But they don’t get wet
Behind us the never-ending sunset
You put your hands on your thighs
And look at me
My head turns towards you
I feel so close to you
“In my room”
Wenige Minuten in einer Welt, in der Casinolichter leuchten, zwei Fußpaare schüchtern in einen Pool tauchen, ohne nass zu werden. Eine digitale Welt des Sich-Beobachtens und Beobachtet-Werdens. Gemeinsam einsam. Ein flüchtiger Moment. Und schon ist Samantha wieder weg. Schon der erste Tag mit Gegenwart: Doing Youth hat in mir Erinnerungen und Gefühle geweckt, die ich lange nicht hatte. Vielleicht bin ich gar nicht mehr so jugendlich, wie ich dachte, aber vielleicht kann ich es wieder werden.
Freitag in Harburg. Eine lange S-Bahnfahrt, das T-Shirt klebt am Rücken, Durst, staubige Straßen und Sonnencreme – das Festival-Feeling ist da. Auf dem Weg zum Stadtpark kühle ich wieder ab, das saftige Grün breitet sich aus. Und was passiert jetzt? Hier muss es irgendwo sein, das „Weltenzelt“ von Nschotschi Haslinger. Ich steige eine Treppe hinab und das kleine weiße Zelt taucht auf. Nschotschi selber ruft mich herein. Ihr zarter Körper steckt in einem wulstigen weißen Kostüm – sie ist eine Raupe. Neben ihr im Zelt liegt ein Kind, bei dessen Anblick es mich kurz erschauert. Lebt es? Das Keramikgesicht wirkt durchscheinend und zerbrechlich, wie gesprungenes Glas. Hände und Füße sind runzelig, die Nägel wie Krallen. Das Kind trägt schicke Schuhe mit Absätzen. Es ist etwas unheimlich, aber auch unheimlich schön. Warum liegt da ein Fisch? Warum lodert eine Flamme? Es soll nicht logisch sein. Die Raupe sagt, ich solle es mir gemütlich machen, und setzt mir Kopfhörer auf. Eine Traumreise beginnt, die eine Welt aus Wurzeln, Ranken und Eisschollen um das Zelt herum zeichnet. Das „alte Kind schläft neben dem Fisch“, die Raupe ruft „komm herein!“. In der Welt der Raupe wird man mit sich selbst konfrontiert, ist orientierungslos und sicher bewacht zugleich. Jugend als Phase der Entpuppung und der großen Frage nach Sicherheit – und dem Weg.
Im Kunstverein Harburger Bahnhof sehe ich den Film „Last Train to Warsaw“ von Fashion House Limanka. Er portraitiert ein fiktives polnisches Kunstkollektiv, das in einem dystopisch zerstörten Stadt Łódź ihren unerfüllbaren und zerbrochenen Träumen gegenübersteht. Sie verwahrlosen, ernähren sich von Dosengemüse, aber sie halten zusammen und gemeinsam an ihrer Vision fest. Den letzten Zug nach Warschau nehmen sie nicht, sondern verbinden sich unter einem gelben riesengroßen Cape und ziehen in den Wald. Auch wenn sie ausweichen, ihre Route ändern, flüchten sie nicht vor den Trümmern ihrer Stadt. Sie geben den Ort ihrer Träume nicht gänzlich auf. Sich haben sie ja noch.
Die Welten, die sich mir in Harburg eröffnet haben, nehme ich mit in die S-Bahn und mir fällt auf, dass mich die Enge hier im Zug nur noch halb so stark beklemmt, der Durst allerdings ist stärker geworden. Abends bei Sekos Kiosk auf St. Pauli gibt es Durstlöscher ohne Ende. Zwischen Bierdosen und Schlickertüten haben sich kleine Kunstwerke von Aleen Solari versteckt. Ihre Skulpturen formulieren ihren Traum nach einer Energydrink-Dynastie. „Hurensohn Energy“ soll der Wachmacher heißen. Dazu reicht sie ein bisschen Vodka, in dem ein Amethyst schwimmt – er bewahrt vor Trunkenheit. Aus Ton geformter „Hurensohn-Energy“-Merch liegt in den Kiosk-Regalen: Schlüsselbänder und Prototyp-Dosen neben Hasseröder Premium Pils-Paletten. Diese kleine Kunst-Schnitzeljagd macht richtig Bock. Auch wenn ich ein Astra und keinen Energy-Drink gekauft habe, fühle ich mich richtig energetisch.
Der Samstag startet im Freiraum des Museums für Kunst und Gewerbe. Hier nähern wir uns in der Gruppe und im Gespräch einer Definition des Begriffs „Jugend“ an. Unter der Moderation von Martin Karcher suchen wir nach den Eigenschaften und Verhaltensweisen, die einen Mensch zum Jugendlichen machen. Texte und Sätze wie der von Rainald Goetz: „Jugend hat die Gesellschaft erobert, verwandelt, verbessert und ist selbst dabei kaputt gegangen, immer wieder […].“ werden angeregt besprochen. Wann hört Jugend auf? Welches Umfeld ist fruchtbar für die Jugend? Was macht Armut und Elend mit der Jugend? Was hat die Pandemie angerichtet? Wie findet man seine Identität? Viele Fragen dieser Art bringen die versammelten Köpfe ins Gespräch.
Neben anregenden Einblicken in die aktuelle Jugendforschung steht auch die Jugend, vertreten von Fatumata, Rede und Antwort. Ihre Welt, die Welt der Jugendlichen allgemein, wird von TikTok regiert. Fatumata sagt, es sei paradox, wie man sich dort vernetze und verletze gleichermaßen. Es wird jedoch auch sehr klar in ihren Erzählungen, dass politische Awareness ein riesen Ding bei TikTok ist. Fatumata redet auf eine bewundernswert offene Art und Weise über sensible Themen wie sexualisierte Gewalt und Drogenkonsum, Langeweile und den falschen Einfluss. Sie berichtet von sogenannten Trends, die auf derartige Themen aufmerksam machen, die sensibilisieren, vernetzen und viral gehen. Es ist eine Welt der Sichtbarkeiten. Ungefilterte Wahrheit, die Fatumata keine Angst macht, sondern sie und die Jugend, deren Teil sie ist, motiviert und stärkt.
Gegenüber am Hauptbahnhof ist die Blumen-Station Karaolan, hinter deren Glasfront zwei Fotografien von Cole Sprouse hängen. Er selbst ist ein berühmter Schauspieler der Serie „Riverdale“. Seine Fotografien zeigen Kendall Jenner, Bella und Gigi Hadid und Co. in Behind-the-Scenes-Situationen der MET-Gala in New York. Kleine unscheinbare Fotografien mitten im Wusel des Hauptbahnhofes. Sehr flüchtig ist hier ausgestellt, was auf Social Media so präsent und prominent wie möglich platziert werden würde. Stars und Sternchen durch die Blume.
Im Generator Hostel auf der anderen Straßenseite gehen junge Reisende mit Rucksack und Rollkoffer ein und aus. Während sie einchecken, laufen neben ihnen im Foyer drei Kurzfilme des Künstlers Daniel Hopp. In tagebuchartigem Stil erzählt er von emotionalen Ups-and-Downs. Sein Protagonist stellt fest, dass der Tiefpunkt überwunden ist – also wohin geht’s heute Abend? Der Strudel des Jung-Seins ist beflügelnd und belastend gleichermaßen. Ein ewiges Weitermachen. Feiern mit Freunden und dann verkatert auf sich zurückgeworfen werden. Die Jugend ist immer auf der Durchreise, das Hostelfoyer unterstreicht den Charakter des nur kurzen, aber intensiven Bleibens.
Ich kehre dem Hauptbahnhof den Rücken und gehe weiter zur Kunsthalle. Dort schnalle ich mir 32cm-hohe, hellblaue Plateaussohlen von Hans Hemmert unter die Füße. Seine Arbeit „level (2 m groß sein)“ bringt alle im Raum auf Augenhöhe. Je nach Körpergröße kann sich jede:r Besucher:in die fehlenden Zentimeter aus dem riesigen Schuhregal nehmen. Nicht nur die Körpergröße, auch die Körpersprache ist angeglichen. Alle machen zaghafte Schritte durch den Raum, alle haben direkt Spaß. Ich frage mich, wie die Gesellschaft wäre, wenn wir immer alle diese Schuhe tragen würden. Es gäbe vielleicht mehr Gleichberechtigung, mehr Gerechtigkeit, weniger Ernsthaftigkeit. Die direkte soziale Wirkung dieser Arbeit hinterlässt einen wortwörtlichen Fußabdruck in meiner Gedankenwelt. Dass das so einfach ist, ist mind-blowing. Vielleicht wird es Zeit, dass wir alle unsere Buffalos aus dem Keller holen.
Zurück auf dem Boden der Tatsachen hole ich mir einen Snack von Paula, heute gibt es Potato-Sandwiches und Bubble-Tea.
WANN: Das Festival „Gegenwart: Doing Youth“, kuratiert von Elena Malzew und Lisa Klosterkötter, fand von Donnerstag, den 15. Juli, bis Sonntag, den 18. Juli, statt.
WO: An verschiedensten Standorten in und um Hamburg.
Danke an Gegenwart für die Unterstützung bei den Fahrtkosten.