Entblößen mit „Neo Brut“ Álvaro Guilherme im STUDIO BETA
6. Mai 2021 • Text von Claire Koron Elat
Kurz, aber intensiv. Obsessiv. Innerhalb eines Monats schaffte Álvaro Guilherme alle Werke seiner Ausstellung „Ode“. Was nach schnelllebiger Bestandlosigkeit klingt, setzt sich fest. Eine Ode an Verletzlichkeit, Gefühle und Emotionen – die wir alle intensiver zelebrieren sollten.
Eine kurze, aber intensiv nachhallende Romanze. Eigentlich fast schon obsessiv – wie diese kurzweilige Obsession, die man mit einer bestimmten Serie hat. Und dann ist es auch nur dieses eine Serie, zu der man innerhalb lächerlich kurzer Zeit eine so zugespitzt intensive Beziehung aufbaut, dass diese nur zum Scheitern verurteilt sein kann. Nach zwei Wochen bingewatchen ist dann auch alles wieder vorbei. Intim war es trotzdem, wenn auch kurz. Intimität ist doch aber eigentlich etwas, dass aufgebaut werden muss. Dass Vertrauen voraussetzt. Und Vertrauen ist nun mal eine Sache, die ein bisschen länger braucht – eigentlich. Vielleicht ist es dann keine vertraute Intimität, sondern Intimität, deren Grund Obsession ist. Diese eine ganz ganz bestimmte Serie schaut man zwar nach zwei Wochen nicht mehr, aber vergessen wird man sie nicht.
Obsessionen sind gefährlich, aber irgendwie sind sie auch so verlockend, dass man sich einfach reinstürzen will. In Álvaro Guilhermes Arbeiten will man sich irgendwie auch reinstürzen. Die vier Gemälde in seiner Einzelausstellung „Ode“ im Studio Beta schreien nach obsessiver Intimität.
Durch die abstrakten, farbintensiven Werke strömt eine Welle von Gefühlen und Emotionen. Dass Gefühle und Emotionen eigentlich keine Synonyme sind, wird vor allem bei „Not vs. Rothko“ klar. Das Gemälde ist fast vollständig von einer dunklen mitternachtsblauen Fläche überzogen, auf der hauptsächlich weiße, graffitiartige Kritzeleien gemalt sind. Wenn man dann nach unten schaut, tritt eine kleine leuchtend weiße Fläche hervor – zurückhaltend, ein wenig distanziert, aber doch selbstbewusst. Selbstbewusst im Sinne von: verletzlich Emotionen zeigen. In einer Gesellschaft, die das mit Nachdrücklichkeit unterdrückt. Auch wenn sich der Forschungstand mit der genauen Definition von Emotionen im Vergleich zu Gefühlen nicht vollkommen einig ist, ist eine gängige Forschungsmeinung, dass Emotionen tieferliegend sind als Gefühle. Gefühle sind sofort auftauchende Stimulierungen der Sinne. Sie sind direkt und bewusst wahrnehmbar. Emotionen manifestieren sich in unserem Unterbewusstsein, wodurch dann oft keinen Zugang mehr zu ihnen besteht.
Trotz der deutlichen Intimität besteht eine Distanz in „Not vs. Rothko“. Es ist nur ein kleiner Spalt, ein kurzes Erhaschen. Die dunkle Oberfläche überwiegt. Es scheint, als wollten Guilhermes Arbeiten eigentlich unbedingt drauflosreden. Unendlich lange Gespräche führen. Aber durch irgendetwas werden sie dann doch gehemmt. Vielleicht sind die ausschweifenden, extrovertierten Formen ja auch nur eine Fassade, die wir uns fast schon intuitiv aufsetzen, um – bei wem auch immer – gut anzukommen. Emotionen kommen eben meistens nicht so gut an.
Da ist dann auch wieder der allgegenwärtige Perfektionismus, der Verletzlichkeit nicht zulässt und dem man sich einfach nicht entziehen kann. Guilherme will diesen Doktrinen mit seiner Kunst umgehen. Mit der von ihm maßgeblich geprägten Kunstrichtung „Neo Brut“ knüpft er an die Strömung Art Brut an, die autodidaktische Kunst von Laien, Kindern oder gesellschaftlichen „Außenseiter*innen“ umfasst. Bei „Neo Brut“ geht es vor allem um Spontanität und ein gezieltes Nicht-Labeln. „Neo Brut“ ist ein bewusstes Ausbrechen aus starren gesellschaftlichen Strukturen, die Emotionales gezielt verschleiern. Der Anspruch ist nicht das perfekte Werk zu schaffen. Stattdessen gilt: unperfekt, verwundbar, unmittelbar.
Guilhermes Arbeiten entblößen ihre Verwundbarkeit trotzdem nicht vollkommen. Ein letztes Gehemmt-Sein ist noch da. Auch sie können sich gesellschaftlichen Konventionen nicht gänzlich entziehen. Die Arbeiten enthüllen sich schrittweise – ein wenig mystifiziert und im poetischen Deckmantel. Je länger man sich mit ihnen beschäftigt, desto weiter entblößen sie sich.
Innerhalb eines Monats hat der Künstler die vier Gemälde und zwei Arbeiten auf Papier fertiggestellt. Diese Schnelllebigkeit – neben Perfektionismus ebenfalls auf dem Zenit unseres Zeitgeistes – prallt mit der Beständigkeit der fertigen Werke aufeinander. Trotz ihres spontanen, intuitiven Stils hallen sie nach. Man vergisst sie nicht. Sie haben Potential für eine Obsession. Eine Obsession, die deutlich länger als zwei Wochen andauert.
WANN: Die Ausstellung „Ode“ läuft noch bis Sonntag, den 16. Mai.
WO: STUDIO BETA, Markgrafenstraße 88, 10969 Berlin.