Das strategische Spiel
Lena Marie Emrich bei Office Impart

18. Oktober 2021 • Text von

Wir alle kennen sie, diese kleinen Momente des Wartens – in der Schlange am Flughafen, beim Durchqueren der Autowaschanlage oder im Fahrstuhl. Es sind diese Mikro-Momente der Entschleunigung, die gleichzeitig an eine Bewegung geknüpft sind, die Lena Marie Emrich in ihren strategisch manipulierten Objekten des Alltags auszudrücken versucht. Office Impart zeigt in der Ausstellung “Never Fight The Current” derzeit brandneue Arbeiten der Künstlerin.

Ausstellungsansicht bei Office Impart, mit buntem Autolack angesprühte Objekte, die auf Geräte zum Ausmessen von Koffern an Flughäfen verweisen, im Hintergrund sind Autofenster zu sehen sowie Lagerfläche und Büromobiliar
Lena Marie Emrich, Never Fight The Current, 2021, Foto: Marjoerie Brunet Plaza.

Empfangen wird man bei Office Impart von der Serie “rules don’t apply to me”, deren Objekte sowohl im Zusammenspiel als auch als Einzelwerke funktionieren. Im Gespräch mit gallerytalk.net erzählt die Künstlerin Lena Marie Emrich, dass das ein für sie wichtiger Aspekt beim Kunstschaffen sei. Alles kann in Beziehung zueinander gesetzt werden, muss aber auch für sich stehen können. Die aus MDF-Platten gebauten Objekte sind angelehnt an Geräte zum Ausmessen von Koffern, die am Berliner Flughafen BER zu finden sind. Sie sind in Chamäleon-Autolacke und verschiedene Farbverläufe getaucht und wirken – präsentiert an einer weißen Ausstellungswand – wie auf Hochglanz polierte, designnahe Kreationen. Dass sich hinter der glossy Fassade tatsächlich Holz verbirgt, wird nur bei genauer Betrachtung der Aufhängungen erkennbar.

Ein rosa-orangenes Objekt, das angelehnt ist an die Geräte zum Ausmessen von Koffern an Flughäfen
Lena Marie Emrich, rules don’t apply to me, 2021, Foto: Marjoerie Brunet Plaza.

Das Thema der Mobilität zieht sich durch das Werk von Lena Marie Emrich. Neben den Flughafen-Objekten werden in der Ausstellung mehrere Fenster verschiedener Autohersteller präsentiert, die die Künstlerin im riesigen Angebot für Autoersatzteile auf Ebay erworben hat. Hier werden die ursprünglichen Formen der Fenster offengelegt, die sonst in den Fenstervorrichtungen des Autos verschwinden. Aus der Ferne scheint es, als würden leichte Spuren auf den Glasscheiben liegen, Spuren von Wassertropfen. Tritt man näher heran, werden die fein eingravierten Muster und Worte mehr und mehr sichtbar. Je nach Lichtinszenierung des Raumes, wirken die Gravuren unterschiedlich stark und werfen Schatten auf die Wände, die wie aufgemalt erscheinen. Seit mehreren Jahren arbeitet die Künstlerin mit dem Designstudio Smile Initial Plus zusammen. In wochenlangem Austausch und akribischer Genauigkeit haben sie die Regentropfen-Gravuren sowie Worte wie “desire”, “move on” oder “and” mithilfe eines Glasstrahllasers auf die Scheiben gebracht. Die abgebildeten Worte fügen sich in das Gesamtensemble aus Bewegung, Schnelligkeit und diesem merkwürdigen Moment der Entschleunigung ein, das “Never Fight The Current” zum Thema hat.

Drei unterschiedlich geformte Autofensterschreiben an weißen Ausstellungswänden
Lena Marie Emrich, Never Fight The Current, 2021, Foto: Marjoerie Brunet Plaza.

Lena Marie Emrichs Werke sind Resultate von Kollaborationen, worüber sie ganz offen und mit Begeisterung spricht: “Das ist doch das Schöne an der zeitgenössischen Kunst. Endlich können wir offen darüber sprechen, dass Kunst durch Zusammenarbeit entsteht.” Die Künstlerin bewegt sich gerne auf unbekanntem Terrain, testet neue Techniken aus oder bringt diese an ihre Grenzen. Sie arbeitet teilweise mit kunstfernen Disziplinen zusammen, schafft eine Öffnung zu anderen Bereichen und bringt gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit Kunst in Gange, die jenseits der akademischen Kunstblase stattfindet. Ihre Kunst verfolgt auf der Seite einen poetischen Anspruch, der für sie aber nicht zwangsläufig immer im Vordergrund stehen muss. Es ist ihr ein Anliegen, mit ihren Arbeiten Denkanstöße zu liefern und Räume zu schaffen, an denen sich nicht gescheut werden muss, sich individuell und emotional mit Kunst auseinanderzusetzen. Eine Betrachtung der Autofenster beispielsweise, ohne gleichzeitig seinem eigenen Spiegelbild ausgesetzt zu sein, ist schier unmöglich.

Nahaufnahme einer Autofensterscheibe, in die Wassertropfen eingraviert sind sowie das Wort "AND", das zu verlaufen scheint
Lena Marie Emrich, and, 2021, Foto: Marjoerie Brunet Plaza.

Lena Marie Emrich schafft Narrative, bedient sich an Alltagsobjekten, die eine kleine Entfremdung oder optische Aufwertung erfahren und löst sie aus ihren ursprünglichen Kontexten. Mit ihren klaren Bezügen zu öffentlichen Orten – Flughäfen, Fahrstühlen oder Waschstraßen – kann die Künstlerin auf den persönlichen Erfahrungsschatz der Betrachter*innen und ihre Emotionen bauen. Sie bezeichnet ihren Umgang mit Kunst als ein “strategisches Spiel”, das sie, so lange es geht, ausreizt und weiterspielt. Sie schafft dabei einen unfassbar großen Assoziations- und Interpretationsfreiraum, durch den vielen ermöglicht wird, ihrer Kunst mit Freude und Neugier zu begegnen. In Museen sind wir oft damit konfrontiert, den Kunstwerken nicht zu nahe zu kommen, die Markierung auf dem Boden bloß nicht zu überschreiten und der Peinlichkeit zu entgehen, vom Museumspersonal auf den eigenen Fehltritt hingewiesen zu werden. Bei Office Impart können wir aufatmen und dürfen auf Tuchfühlung gehen. Lena Marie Emrichs Werke fordern geradezu ein, dass man sie sich aus nächster Nähe anschaut und akribisch genau unter die Lupe nimmt, um ihr vielschichtiges Antlitz wahrnehmen zu können.

Nahaufnahme einer Autofensterscheibe mit feinen Wassertropfen-Gravuren und dem Wort "GRACIOUSLY", das zu verlaufen scheint
Lena Marie Emrich, letting go graciously, 2021, Foto: Marjoerie Brunet Plaza.

“Never Fight The Current” visualisiert die Momente der Entschleunigung an öffentlichen Orten, die so kurz und nichtig erscheinen, dass wir ihnen keine besondere Bedeutung beimessen, sowie die Angst vor dem Innehalten in eben diesen. Die Ausstellung ist eine künstlerische Antwort auf die Schnelllebigkeit unserer Welt, ein Hinweisen auf die kleinen Momente, die uns blitzschnell durch die Finger rinnen und die es sich doch einzufangen lohnt. In den Arbeiten proklamieren sich Lena Marie Emrichs Materialfetisch, ihre Freude am Detail und die Erhebung von Alltagsobjekten zu hochwertigen Kunstwerken. Ihre Objekte erfahren zusätzlich eine noch unbekannte Nachgeschichte, auf die die Künstlerin keinen Einfluss mehr hat, sobald die Arbeiten den Ausstellungsraum verlassen. Und das ist gut so. Je nach Ort oder Lichtinszenierung ihrer Werke, geben sie neue Blickwinkel und Perspektiven frei. So bleiben ihre Arbeiten auch nach ihrem Entstehen weiter in Bewegung und gehen mit dem Strom der Zeit.

Aufgepasst! Im Anschluss an die Einzelausstellung von Lena, folgt Anfang November eine Dreier-Schau mit Arbeiten von Hannah Sophie Dunkelberg, Johanna Dumet und Lena Marie Emrich.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Freitag, den 29. Oktober, und kann nach Vereinbarung oder Buchung eines Time-Slots besucht werden.
WO:
Office Impart, Waldenserstraße 2-4, 10551 Berlin.

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