Blaue Tiefen
Miriam Cahn im Haus der Kunst

19. Juli 2019 • Text von

Vor dem Eingang der Ausstellung hängt ein kleines Hinweisschild: “Liebe Besucherinnen und Besucher, wir möchten Sie aus Jugendschutzgründen darauf hinweisen, dass in der Ausstellung “Miriam Cahn. Ich als Mensch” sexuell explizite Darstellungen enthalten sind.” In der von Jana Baumann kuratierten Ausstellung im Haus der Kunst werden über 150 Arbeiten der Schweizer Künstlerin gezeigt, wobei vor allem eines zu erkennen ist: Je neuer die Werke, desto provokanter ihr Inhalt.

Für schwache Nerven und konservative Gemüter sind Miriam Cahns (*1949) Arbeiten nicht geeignet. Das ist auch gut so, denn Kunst ist ja bekanntlich nicht dafür gemacht, zu gefallen, in Miriam Cahns Fall ist sie eher dafür da, um aufzufallen – um Ungesehenes sichtbar zu machen. Sie lenkt die Blicke der Kunstwelt auf Thematiken, die lange Zeit keinen Platz in den Museen hatten. In den frühen Jahren ihres Schaffens wurde vor allem die geschlechterspezifische Rolle der Frau in der Gesellschaft zum Gegenstand ihrer Arbeit. Heute beschäftigt sie sich zudem mit aktuellen, gesellschaftlichen Problematiken wie Flucht, Krieg und Gewalt.

Miriam Cahn, atombombe und W+H worldtrade, 2019, Ausstellungsansicht / Installation view Haus der Kunst, Foto: Jens Weber, München.

Direkt im ersten Raum der Ausstellung “Miriam Cahn. Ich als Mensch” sind zunächst einmal keine Menschen an den Wänden zu sehen. Hier wurden zwei sehr gegensätzliche Werkreihen der Künstlerin gekonnt gegenübergestellt. Farbenfrohe Darstellungen von Atompilzen und monumentale, schwarze Kreidezeichnungen treffen hier aufeinander. Die Ausstellung startet mit ihren Frühwerken, fragile, riesige Zeichnungen mit dynamischen Bewegungen und schwarzen Fußabdrücken. Voller Körpereinsatz war dafür notwendig, ganz im Stil der 80er Jahre. Soweit so gut. Interessant wird es in den restlichen Räumen, vor denen uns das kleine Hinweisschild am Eingang gewarnt hat. Weg von den Zeichnungen, hin zu ihren späteren Ölgemälden.

Miriam Cahn, abbau und unklar, 2019, Ausstellungsansicht / Installation view Haus der Kunst, Foto: Jens Weber, München

Der Mensch kommt ins Spiel und mit ihm die körperliche Gewalt, die Verzweiflung und die Obszönität. Cahns charakteristische Darstellung des reduzierten Körpers zeigt uns Betrachtenden ein neues Körperbild. Runde Köpfe ohne Haare und platte Gesichter vermitteln eine gewisse Universalität. Es sind keine Individuen mehr, die wir auf den Leinwänden sehen, es ist eine Visualisierung Vieler. Sie stehen dort, nackt. Die Genitalien überproportional groß und meistens in Aktion. Zu sehen ist eine Mischung aus Kampf und Geschlechtsakt, alleine oder zu zweit. Es ist unklar was hier konkret geschieht, aber eine gewisse Brutalität ist auf alle Fälle spürbar. Es wird klar, weshalb das Warnschild angebracht wurde. Ein Bild darf hierbei natürlich nicht fehlen: “l’origine du monde schaut zurück, 16.+21.12.17+20.1.18”. Eine provokante Antwort auf Gustave Courbets “Der Ursprung der Welt”. Cahn gibt Courbets einsamen Venushügel einen Körper, zwei große Brüste und einen Kopf, der unter einem Schleier verborgen bleibt, die Augen auf die Betrachtenden gerichtet.  

Miriam Cahn, BLAU, 21.7.17, 2017, oil on canvas, 225 x 280 cm (88 1/2 x 110 1/8 in.), Courtesy the artist, Galerie Jocelyn Wolff, Paris and Meyer Riegger Berlin, Karlsruhe, Photo: François Doury.

Ein Gefühl wird deutlich, es manifestiert sich langsam, aber sicher. Die Bilder strahlen Wut aus. Wut auf die Gesellschaft? Auf Politik? Auf Menschen? Die Künstlerin möchte provozieren und auf Themen aufmerksam machen. Provokation schön und gut, aber welches Bild bleibt mir im Kopf? Es sind nicht die Bilder, die auf den ersten Blick Gewalt abbilden. Im Gegenteil. In “BLAU, 21.7.17” ist keine Wut zu spüren, es ist etwas viel Schlimmeres: Hoffnungslosigkeit. Ein tiefer Strudel aus Verzweiflung, Isolation und Angst zieht mich in das Bild hinein. Menschen sterben, jeden Tag. Sie ertrinken im Mittelmeer, dort wo andere Urlaub machen. Es sind die leblosen Körper, die im tiefen, blauen Wasser hinab sinken, die mir im Gedächtnis bleiben. Ein (leider) topaktuelles Thema, welches Cahn verstörend ergreifend auf die Leinwand bringt und damit zum Nachdenken anregt. Manchmal ist also wirklich Weniger mehr. Eine letzte Frage bleib offen am Schluss: Ist vor Courbets Gemälde wohl auch ein Warnhinweisschild zu finden?  

WANN: Noch zu sehen bis 27. Oktober.
WO: Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, 80538 München. 

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