Die Kinder der Revolution Anastasia Sosunova bei Britta Rettberg
17. September 2021 • Text von Quirin Brunnmeier
In ihrer ersten Solo-Show bei Britta Rettberg in München zeigt die litauische Künstlerin Anastasia Sosunova einen installativen Eingriff, der die gesamte Galerie vereinnahmt. Sie verbindet skulpturale Objekte, Videos und unterschiedliche Drucke zu einer komplexen Inszenierung zwischen mythologischer Vergangenheit und post-apokalyptischer Zukunft.
Zwischen metallischen Skulpturen, die wie robotische Gräser wirken, ist in einem der hinteren Räume der Galerie Britta Rettberg in der Maxvorstadt ein übergroßer Schlafsack drapiert, der bei näherer Betrachtung mit von christlich-orthodoxen Ikonografien inspirierten Bildern bestickt ist. Direkt daneben eine improvisierte Feuerstelle aus Holzscheiten, doch es lodern keine wärmenden Flammen. Stattdessen zeigt ein auf dem Holz platzierter Screen ein Video: Ein Vogel versucht unermüdlich, aus seinem Käfig zu entkommen, Bilder von Baggern und Schrott, dazu hat die Künstlerin poetische Textfragmente zusammengestellt. An der Wand ein Druck in expressivem Orange. Die unterschiedlichen Arbeiten sind nicht lediglich im Raum platziert, Anastasia Sosunova hat diesen, wie auch die anderen Räume in der Ausstellung, behutsam inszeniert. Doch welcher Einsiedler lebt in dieser post-historischen Waldlichtung?
Die in Vilnius lebende Künstlerin vermengt in ihren medienübergreifenden Arbeiten zeitgenössische Folklore mit Mystizismus und Religion. Sie schafft Verbindungen zwischen dem magischen Denken ritualisierter Prozesse und den Mechanismen des entfesselten Kapitalismus im postsowjetischen Litauen. Alltägliche Materialien und Motive treffen auf religiöse Ikonen und kommunistische Bildsprache. Fragen zu Geschichte, Identität, Ängsten und Zuversicht vermischen sich zu einem enigmatischen und individuellen Kosmos aus Bildern, Videos Objekten und Radierungen. Geschichte ist immer ein ex-post konstruiertes Narrativ, das genutzt wird, um etwas zu transportieren, sei es Macht, Utopie, Angst oder Stolz. Anastasia Sosunova hinterfragt diese Mechanismen, gleichzeitig aus der persönlichen wie aus der politischen Perspektive und schafft so ihren eigenen narrativen Raum aus Referenzen, Querverweisen und Möglichkeiten.
Die Ausstellung stützt sich auf zwei literarische Werke: den stark zensierten Roman “Chevengur” des sowjetrussischen Schriftstellers Andrei Platonov, der bereits 1928 fertiggestellt, aber erst 1988 veröffentlicht wurde, und die jüngere Kurzgeschichte “2017 – A Year of Anniversary” der litauischen Künstlerin Agnė Jokšė. Beide Texte sind durch eine tiefgreifende Ambivalenz in Bezug auf Utopien und gesellschaftliche Ideale gekennzeichnet. Revolutionäre Projekte scheitern, Gemeinschaften zerbrechen und Individuen werden zurückgelassen. Die Ausstellung funktioniert wie ein Bühnenbild, in dem die lokalen Bräuche einer imaginären Gesellschaft kommuniziert werden, die, wie jede Gesellschaft, durch Inklusion der einen, und Exklusion der anderen funktioniert. Die gezeigten Objekte wirken fremd und doch eigentümlich bekannt.
Mit “Jubilee” präsentiert Anastasia Sosunova ein komplexes System aus Symbolen und Verweisen, das religiöse, propagandistische und poetische Elemente verbindet. In der Ausstellung koexistieren unterschiedliche Ansätze, Techniken und Materialien gleichwertig. Der Wunsch nach radikalem Wandel wird thematisiert und gleichzeitig hinterfragt. Von den verlockend einfachen Antworten, die totalitäre Ideologien jeder Art zu geben scheinen, lässt sich die Künstlerin nicht locken. Dennoch ist der Grundton der Ausstellung, trotz post-apokalyptischer Tristesse, ein positiver. So scheinen im Kosmos von Anastasia Sosunova Strukturen möglich, die nicht in binären Kategorien gedacht werden müssen, aus einem entweder/oder wird ein mögliches sowohl/als auch.
WANN: Die Ausstellung ist noch bis zum 22. Oktober zu sehen.
WO: Galerie Britta Rettberg, Gabelsbergerstraße 51, 80333 München.