A grammar of the world
William Kentridge in den Deichtorhallen

29. Oktober 2020 • Text von

Rätselhafte, scherenschnittartige Figuren tänzeln und marschieren durch seine Welt, alles ist im Fluss. Nashörner verwandeln sich in Flugzeuge, Körper explodieren und werden zu galaktischen Augen. Die Deichtorhallen präsentieren in Zusammenarbeit mit dem Zeitz MOCAA eine umfassende Retrospektive William Kentridges.

Eine schwarze Leinwand, darauf in weiß die Animation eines Schädels mit geöffneter Schädeldecke
Ausstellungsansicht William Kentridge – Why should I hesitate – putting drawings to work William Kentridge: UBU Tells The Truth, 1997 im Zeitz MOCAA. Why Should I Hesitate: – Putting Drawings to Work, © Courtesy of the Artist and Goodman Gallery. Image courtesy of Zeitz MOCAA. Foto: Anel Wessels

Es ist schwer, in Worte zu fassen, was den Reiz der Kunst von William Kentridge ausmacht. Den weißen Südafrikaner treibt die politische Entschlossenheit, Rassismus, Menschenrechte und Chancengleichheit zu thematisieren. Nicht weniger wichtig sind aber ein wiederkehrend spielerisches Element und ein narrativer Drive, die eine unvergleichliche Sogwirkung entfalten.

Erstmals wurde eine solche Fülle an Arbeiten Kentridges zusammengetragen. Werke aus 40 Schaffensjahren lassen in der extrem liebevoll zusammengestellten Schau die Genese seiner Bildsprache, Motiv- und Materialentwicklung von den Anfängen an nachverfolgen.

Am Anfang seines Schaffens, aber auch jedes einzelnen Projekts steht die Zeichnung: Von kräftigen, frühen Zeichnungen, Drucken und ersten Animationen lässt die Ausstellung einen deutlichen roten Entwicklungsfaden hin zu Kentridges fast schon modularer Bildsprache erkennen, die von monochromen, scheren- oder holzschnittartigen Motiven – Welt, Baum, Lautsprecher, Stativ, Tieren und Menschen in allen Lebens- und Sterbenslagen – geprägt ist. Zentrales Element und erzählerische Triebfeder ist die stete Metamorphose der Dinge. Ein nicht abreißen wollender Fluss von sich ineinander verwandelnden Motiven entfaltet sich vor den Augen der Besucher*innen und schlägt sie in den Bann. In einem so geballten Format bringt sie die Kunstbetrachter*innen aber auch an den Rand der Aufnahmefähigkeit.

Ausstellungsansicht William Kentridge in der Halle für aktuelle Kunst
Ausstellungsansicht William Kentridge – Why should I hesitate: Putting Drawings to Work in der Halle für aktuelle Kunst, Foto: Henning Rogge Copyright: © Deichtorhallen Hamburg

Immer wieder eröffnet die Ausstellung faszinierende Einblicke in die kreativen Prozesse in Kentridges Künstleratelier. Ein Ausstellungsraum ist ganz der Atelieratmosphäre, den Arbeits- und Denkprozessen rund um sein Schaffen gewidmet, aber auch an anderer Stelle können Besucher*innen anhand von Ateliervideos und Druckplatten etwa die Entstehung seiner komplexen Holzschnittcollagen nachvollziehen.

Mehrere Projektionsflächen stehen aneinandergereiht. Zu sehen ist eine Parade, zentral im Bild spielt eine Militärkapelle.
William Kentridge: More sweetly play the dance, 2015, Ausstellungsansicht in der Halle für aktuelle Kunst, Foto: Henning Rogge Copyright: © Deichtorhallen Hamburg

Das absolute Herzstück und Highlight der Ausstellung ist allerdings die monumentale Videoarbeit „More sweetly play the dance“ von 2015. Über die gesamte Breite der Halle für Aktuelle Kunst stehen aneinandergereiht Projektionsflächen, über die sich eine Prozession oder Parade rätselhafter Personen bewegt. Mitreißende Musik wummert durch den Saal, zu der sich die Darsteller in einer Art Schattentheater tänzerisch entlangziehen. Unter anderem sind eine Militärband, Politiker, Personen, die Dinge tragen oder ziehen, verschiedene Tänzer, darunter eine Tänzerin, die eine Art choreografierten Gewehrtanz vollführt, und Ebolakranke mit Infusionsständer auszumachen. Woher sie kommen oder wohin sie unterwegs sind, bleibt ein Rätsel. Die Inszenierung lässt sich irgendwo zwischen dem Lauf der Dinge und einem Totentanz verorten.

Drei Leinwände sind tryptichonartig angeordnet. Auf allen Flächen ist eine mit Schrifttafeln kostümierte Tänzerin zu sehen
Ausstellungsansicht William Kentridge – Why should I hesitate: Putting Drawings to Work in der Halle für aktuelle Kunst, Foto: Henning Rogge Copyright: © Deichtorhallen Hamburg

„More sweetly play the dance“ ist wie viele Arbeiten der letzten Jahre in Kooperation mit der Tänzerin und Choreografin Dada Masilo entstanden, die auch in etlichen weiteren Filmen der Ausstellung wiederzufinden ist. Das tänzerische Element, die performative und spielerische Seite von Kentridges Kunst macht einen zentralen Aspekt ihrer Durchschlagskraft aus. Sie führt dazu, dass sich die Besucher*innen immer wieder freimütig auf seine häufig unbequeme, politisch herausfordernde Weltsicht einlassen und die Ausstellung erschöpft, aber auch voller Bilder und Eindrücke zufrieden verlassen.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis zum 18. April 2021.
WO: Deichtorhallen, Halle für aktuelle Kunst, Deichtorstrasse 1-2, 20095 Hamburg.

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