Wie geht es weiter, Peter Weibel?
Umstrukturierung mit Technologie und Kunst

27. März 2021 • Text von

Die Gesellschaft als Geschäft – dieses Modell hat ausgedient, findet Peter Weibel. Mit der globalen Gesellschaft im Lockdown und einem Krisenstab von Umwelt-, Gesundheits- und Migrationskrise werden die Schwächen eines auf Wachstum, Wettbewerb und Massenkonsum ausgerichteten Wirtschaft- und Gesellschaftssystems offenbar und eine Umstrukturierung wird erforderlich. Das Digitale bietet hierbei Potenzial für ein neues Verständnis “global”. Und die Kunst für ein verändertes Sehen und Sichtbarkeit.

Blick in die Ausstellung "respektive Peter Weibel".
Blick in die Ausstellung “respektive Peter Weibel”, 27. September 2019 bis 8. März 2020, © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Foto: Tobias Wootton.

Innerhalb weniger Jahre hat die Welt eine Reihe von Krisen erlebt, die noch andauern oder deren Folgewirkungen noch andauern: die Finanzkrise, die Migrationskrise, die Klimakrise und nun die Gesundheitskrise. Die Globalisierung hat eine unbegrenzte Mobilität versprochen. Doch stattdessen befinden sich die Menschen im Lockdown. Das Wirtschaftsleben, das Kulturleben, das soziale Leben liegen darnieder.

Man könnte daraus den Schluss ziehen, ein Geschäftsmodell ist kollabiert. Welches Geschäftsmodell? Exakt dieses: die Gesellschaft als ein Geschäft zu betrachten, bei dem Wettbewerb, Marktexpansion, Wachstum und Profit im Zentrum stehen. Die alles lähmende Corona-Krise zwingt uns, dieses Geschäftsmodell der Gesellschaft zu überdenken. Massenmobilität und Massenveranstaltungen, Massenkonsumerismus und Massentierhaltung sind als Quellen und Ursachen von Viren auszumachen und deren Zukunft in Frage zu stellen.

Nun beginnt die Ferngesellschaft, deren Technologien, von Television bis Internet, schon seit Jahrzehnten bereit liegen, um endlich benutzt zu werden. Alles was bisher verpönt war, z.B. Fern- bzw. Distanzunterricht, wird nun verwirklicht. Auch der Kulturbetrieb wird gezwungen, sich mit digitalen Technologien neue Sphären der Öffentlichkeit zu schaffen. Museen werden nicht mehr nur Orte für lokale, sondern auch Sender für nicht-lokale Besucher:innen sein.

Bisher galt von Staats wegen ein Vermummungsverbot. Nun gilt ein gesetzliches Vermummungsgebot. Vermummte, maskierte Gesichter können sich wechselseitig nicht mehr sehen. Das Wort Gesicht leitet sich vom Wort Sicht ab. Sicht bedeutet Sehvermögen. Fahren auf Sicht heißt, fahren so weit die Sicht reicht. Wenn nun Gesichter nicht mehr gesehen bzw. gesichtet werden, handelt es sich also um eine staatlich verordnete Sichtreduktion. Die visuellen Künste müssen auf diese Gesichtsblindheit, diese Prosopagnosie, in der sich die allgemeine soziale Blindheit angesichts aller Krisen spiegelt, reagieren. In der gegenwärtigen gesichtslosen Gesellschaft werden sie neue Formen der Sichtbarkeit produzieren.

Die Welt ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nicht nur die Menschheit, auch der Planet Erde ist ein Patient. Die Künste werden der Welt ein neues Gesicht verleihen, das aus allen Mitwesen geformt sein wird.

Peter Weibel ist der Direktor des ZKM Karlsruhe und ein international anerkannter Ausstellungskurator und Kunst- und Medientheoretiker. Herausragende Ausstellungen waren unter anderem “YOU-ser: Das Jahrhundert des Konsumenten” (ZKM Karlsruhe, 2007), “Beat Generation” (ZKM Karlsruhe, 2017), oder “Kunst in Europa 1945–1968. Die Zukunft im Blick. Art in Europe 1945–1968” (Staatliches Museum für Bildende Künste A. S. Puschkin, Moskau). In Projekten wie “Critical Zones. Horizonte einer neuen Erdpolitik” verbindet er Gesellschaftskritik, Innovation und Kunst und zeigt so Möglichkeiten eines erweiterten Miteinanders auf.

Für die Reihe „Wie geht es weiter, …?“ haben wir Künstler*innen, Kunst-Theoretiker*innen und Kulturschaffende nach ihren Ideen, Plänen und Visionen für die Kunst in und nach 2021 gefragt.

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Wie geht es weiter, Jenny Schäfer?
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Wie geht es weiter, Jürgen Partenheimer?
Wie geht es weiter, Jonathan Meese?