Künstlerinnen schreiben Geschichte(n) II
Romane von zeitgenössischen Künstlerinnen

24. Mai 2022 • Text von

Die Künstlerinnen Lea Draeger, Olga Hohmann, Jovana Reisinger und Yevgenia Belorusets erweitern mit ihren Romanen und Erzählungen nicht nur den Rahmen ihrer persönlichen künstlerischen Praxis. Sie sprechen in ihrem Schreiben auch gesellschaftliche und politische Themen an. Familiengeschichte, Rollenbilder, Atomenergie und Krieg – diese Ausgabe unseres Kunstgriffs ist ein bunter Strauß an literarischen Auseinandersetzungen, geschrieben von zeitgenössischen Künstlerinnen.

Autorin Lea Draeger. Foto: Paula Winkler

Lea Draeger

Für ihre neueste Ausstellung „Ökonomische Päpste und Päpstinnen“ hat Lea Draeger bei Ebensperger die Wände und den Boden des Ausstellungsraumes mit kleinen Zeichnungen verschiedenster Variationen von Päpst:innen gekachelt. Geistliche und Heiligenfiguren spielen auch im Debütroman der Schauspielerin und bildenden Künstlerin eine Rolle, die sich damit nun auch ganz offiziell Romanautorin nennen darf.

Kindlich direkt und ohne Umschweife, in klarer Sprache und Struktur entfaltet Lea Draeger mit „Wenn ich euch verraten könnte“ die Brutalität familiärer Beziehungen und Traumata, eingewoben in eine patriarchale Realität aus religiösem Glauben und kultureller Heterogenität. Die Hauptfigur und Ich-Erzählerin im Roman ist ein 13-jähriges Mädchen, das aufhört zu essen und anfängt zu schweigen, das hungert bis es sich in der Psychiatrie wiederfindet, wo es im heimlichen Schreiben in ein kariertes Notizheft auch ihre Sprache wiederentdeckt.

Der Vater hat sich über die Frauen gehockt. Ich muss erst den Vater wegschaffen, um an meine Mutter heranzukommen“, erkennt die Protagonistin im Buch. Langsam und kompromisslos verweist sie den göttlich anmutenden Vater seinem Platz in der Familiengeschichte, um sich so ihrer Mutter und Großmutter anzunähern.

Cover Lea Draeger, “Wenn ich euch verraten könnte”, Hanser Verlag 2022 / Cover Florian Endres & Olga Hohmann, “The Overview Effect”, Textem Verlag 2022.

Olga Hohmann & Florian Endres

Schauspielerin, Freie Künstlerin und Autorin Olga Hohmann war mit ihrer leichtfüßigen Erzählung „What I (don’t) remember“ bereits in unserer ersten Ausgabe des Kunstgriffs „Künstler:innen schreiben Geschichte(n)“ vertreten. Mit „The Overview Effect“ ist nun gemeinsam mit dem Philosophen Florian Endres ein weiteres Buch von ihr entstanden. 

Der „Overview Effect“ beschreibt ein Phänomen der Wahrnehmungsveränderung, das Astronaut:innen erleben, wenn sie das erste Mal aus dem All auf die Erde blicken. Diesem Phänomen widmet sich Olga Hohmann zusammen mit Florian Endres auf literarische und philosophische Weise in ihrem gleichnamigen Werk, das auf eine Performance in der Berliner Galerie Anton Janizewski zurückgeht und nun als Buch im Textem Verlag erschienen ist. Ausgehend von der Geschichte von Hohmanns Großvater vollziehen die beiden Autor:innen darin einen wilden Ritt durch das Periodensystem und stellen literarisch wie philosophisch kluge Bezüge zwischen der Betrachtung von Welt, Atomenergie und dem Bereich des Privaten her. „The Overview Effect“ ist ein gleichsam inspirierender wie gelungener Versuch, Unmittelbarkeit über Distanz zu erklären und umgekehrt.

Autorin Jovana Reisinger. Foto: Tanja Kernweiß

Jovana Reisinger

Valentinstag, Frauentag, Muttertag – kaum etwas steht symbolkräftiger für geschlechterbezogene Klischees, enttäuschte Hoffnungen und unerfüllte Erwartungen an Rollenbilder, in die Frau und Mensch noch nie so richtig gepasst haben, wie diese Feiertage. In Jovana Reisingers Roman „Spitzenreiterinnen“ bilden sie die Zeitachse für die Geschichten von Frauen, die die Namen von Frauenzeitschriften tragen. 

Humorvoll, mit bissiger Ehrlichkeit und bayerischer Nonchalance erzählt die Autorin aus dem Leben von Lisa, Barbara, Petra sowie anderen Frauen und verleiht der Erzählstimme im Buch die Instanz des kommentierenden, gesellschaftlichen Korrektivs. So wird Laura zu einer dieser Frauen, die gar nicht anders können, als sich über einen Heiratsantrag am Valentinstag zu freuen, weil sie eben Frau ist und dieses Verhalten nun mal seit jeher internalisiert hat. Und Petra wird zur unterbezahlten und unterforderten Galerie-Assistenz mit Studienabschluss, die trotz ihrer Qualifikation brav in ihrer Position verharrt und geduldig auf die Beförderung wartet, denn schließlich haben Mutter und Tante ihr das so beigebracht.

Wie schon in ihrer Einzelausstellung „Men in Trouble“ (2020) widmet sich die Autorin, Filmemacherin und bildende Künstlerin in „Spitzenreiterinnen“ geschlechterbezogenen gesellschaftlichen Kategorien und Glücksversprechen. Diese bleiben in Reisingers Roman glücklicherweise nicht für alle Frauen unerfüllt.

Cover Jovana Reisinger, “Spitzenreiterinnen”, Verbrecher Verlag 2021 / Cover Yevgenia Belorusets, “Glückliche Fälle”, Matthes & Seitz Berlin 2019.

Yevgenia Belorusets

Die Protagonistinnen, allesamt Frauen, in Yevgenia Belorusets Buch „Glückliche Fälle“ sind Mitarbeiterinnen in einem Nagelstudio, sie sind zufällige Passantinnen und Revolutionärinnen. Die zwischen Kiew und Berlin lebende Fotografin und Autorin Yevgenia Belorusets hält in ihren kurzen Erzählungen das Flüchtige fest. Der Grund: „Das Unbedeutende und Kleine, das Zufällige und Überflüssige, das Verdrängte stehen im Mittelpunkt meines Interesses“, schreibt die Autorin in ihrem Vorwort und erklärt, „weil es niemals zu einem Objekt der Beute werden wird.“

Die Geschichten der ukrainischen Autorin spielen an den Rändern des Alltags, des politischen und kulturellen Lebens und manchmal auch inmitten der Fantasie. Konkret sind sie in der Ukraine der Jahre 2016 bis 2018 verortet und aus heutiger Perspektive, mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, zu Momenten des Alltags geworden, die so größtenteils ausgelöscht sind. 

In Verbindung mit den Fotografien im Buch, die alle kurzen Erzählungen begleiten, erinnert „Glückliche Fälle“ an die Erzählungen der Künstlerin und Autorin Sophie Calles. Und wenn  Yevgenia Belorusets im Vorwort zu ihrem Buch über das Dokumentarische in der Fotografie philosophiert, es kritisiert, steht sie unlängst auch den Gedanken Susan Sontags nah.