Stadtführungen mit Herz Berlin Kultour
1. Juli 2016 • Text von Hannah Schraven
Der Kunsthistoriker und passionierte Bartträger Tobias Allers geleitet mit viel Ahnung und Charme durch Berlins bunten Street Art Dschungel. Wahrnehmungserweiterung garantiert, wir haben’s ausprobiert…
Es handelt sich um einen klassischen Fall von visueller Übersättigung: In Berlin wird Street Art so groß geschrieben, dass man die Kunst vor lauter Kunstwerken nicht sieht. Wir sitzen in der S-Bahn, laufen zum nächsten Geldautomaten, abends mit Freunden zur nächsten Bar – der Blick schweift durch die urbane Landschaft und, klar, sieht man die vielen Graffitis und Tags an den Wänden, aber wirklich hingucken tut höchstens, wer als laienhafter Touri-Führer mit Berlin-fremden Freunden die East Side Gallery erkundet. Dass in Berlin eine der größten und divergentesten Street Art Szenen weltweit zuhause ist, weiß jeder, wirklich Ahnung haben dagegen die Wenigsten. Mit Namen wie Banksy oder JR lässt sich das Halbwissen im Gespräch klasse aufpolieren, Hauptsache keiner bohrt nach.
Die eigene selektive Wahrnehmung ist eine der ersten Sachen, mit denen man konfrontiert wird, lässt man sich von Tobias Allers durch Berlins Street Art Dschungel geleiten. Tobias – 31 Jahre jung, markanter Rauschebart zum selbst designten Jutebeutel, kurzum: Berliner Lässigkeit in Person – ist einer von der Sorte, die nicht nur Ahnung haben, sondern diese auch gerne teilen. Vor knapp zwei Jahren hat der studierte Kunsthistoriker und zertifizierte Gästeführer sein Projekt „Berlin Kultour“ gegründet und bietet seitdem Führungen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten durch die schöne Hauptstadt an. Neben dem Street Art Rundgang stehen unter anderem Touren zu Berlins Migrationsgeschichte oder zu aktuellen Gentrifizierungsprozessen auf dem Programm. Wem es jetzt schon vor typsicher Touristen-Bespaßung à la Hop On/ Hop Off Bus graust, der hat sich geschnitten. Tobias Führungen sind persönlich und interaktiv und fühlen sich deshalb mehr nach gemeinsamer Entdeckungstour als nach klassischem Stadtrundgang an.
Und so finden wir uns samstags zu einer selbst für Langschläfer verkraftbaren Zeit auf dem Kaiser’s Parkplatz unweit der Warschauer Straße wieder. Das erste Kunstwerk prangt zufälligerweise gleich nebenan: ein gigantisches Taschenmesser, von dem Schweizer Künstlerkollektiv One Truth Graffiti Art frisch an die Wand gebracht. Die erste Station ist das RAW Gelände – Friedrichhains alternatives Kulturareal, das neben diversen Bars und Clubs auch die Urban Spree Gallery und jede Menge Street Art beherbergt. Wir schlendern herum und Tobias erzählt – nicht nur über das Schaffen einzelner Künstler und Kollektive, sondern auch über die Anfänge der Szene, unterschiedliche Techniken und die Stories hinter den Werken. Langsam lernt man wiederkehrende Handschriften zu entziffern: Da sind die Konfettitänzer des französischen Künstlers SOBR, da ist der von El Bocho kreierte Charakter Little Lucy, die ihre Katze äußerst fantasievoll immer wieder anders zur Strecke bringt. Nicht zu vergessen auch die weltweit bekannte Sprayercrew 1UP und die Italienerin Alice, eine der wenigen Frauen in der sonst eher männerdominierten Szene.
Tobias liegt aber nicht nur die Kunst, sondern damit verbunden vor allem auch die Entwicklung von Berlins Bezirken am Herzen. Es ist die alte Leier: Kiez um Kiez wird von der Gentrifizierungswelle überschwappt, Einwohner müssen ihren Wohnraum verlassen, ein bezahlbares Zimmer zu finden stellt inzwischen eine beachtliche Leistung dar. Dass diese Themen auch die Künstler der Hauptstadt beschäftigen, spiegelt sich an den Hauswänden und Wohnungseingängen unmissverständlich wider. Street Art ist selten nur Kunst um der Kunst willen – vielmehr handelt es um künstlerische Interventionen, durch die gesellschaftliche Missstände im öffentlichen Raum und damit für jedermann sichtbar gemacht werden. Als bekanntestes Exempel lässt sich wohl die Cuvrystraße nennen, die in Tobias Tour selbstverständlich nicht fehlen darf. Bis 2014 prangten hier noch zwei Murals des Künstlers BLU, bis dieser seine Ikonen aus Protest gegen die Gentrifizierung des Bezirks schwarz übermalen ließ. Jetzt steht man etwas unbeholfen und etwas traurig vor dem abgesperrten Gelände und starrt die düsteren Narben an der Hausfassade an.
Nach drei Stunden endet Tobias Tour schließlich am Kottbusser Tor – ein paar letzte Graffiti und Tags werden betrachtet, bevor sich mit einer herzlichen Umarmung verabschiedet wird. Auf dem Weg nachhause wandern die Äuglein plötzlich viel aufmerksamer umher als sonst: Eigentlich kennt man den Heimweg ein- und auswendig, die vielen Graffitis an Wänden und Dächern fallen einem heute trotzdem zum ersten Mal auf. Tobias Tour macht nicht nur schlauer als vorher, sondern erweitert auch auf ganz natürliche Art und Weise die Wahrnehmung. Wir stellen fest: Kultur gibt’s in Berlin jede Menge – Kultour hingegen nur einmal!
WAS: Berlin Kultour. Neben der Street Art Tour bietet Tobias auch Führungen zur Flüchtlingsthematik oder Stadtgeschichte an. Einen Überblick und alle wichtigen Infos findet ihr hier.
WANN: Die nächste Street Art Tour findet am 16. Juli statt. Anmelden könnt ihr euch hier.