Busy, müde, tot
"Artist’s Choice" im Kunstmuseum Liechtenstein

25. Mai 2023 • Text von

In “Are We Dead Yet?” im Kunstmuseum Liechtenstein setzt die Künstlerin und Kuratorin Martina Morger teilweise noch nie gezeigte Werke der Museumssammlung, die das Phänomen der allgegenwärtigen Erschöpfung unserer Leistungsgesellschaft aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch beleuchten, in einen neuen Kontext. Die Werke setzen sich mit der Vergänglichkeit, dem Tod und der Reflexion unseres Seins, unserer Bedürfnisse, auseinander. Was auf den ersten Blick düster und ausweglos daherkommt, birgt einen Funken Licht, einen Hoffnungsschimmer, in sich.

Pamela Rosenkranz Aquamarine (Radiant Teeth) Kunstmuseum Liechtenstein gallerytalk
Installationsansicht: Artist’s Choice: Martina Morger. Are We Dead Yet?, 17.2. – 6.8.2023, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Pamela Rosenkranz, Aquamarine (Radiant Teeth), 2018, PET-Flasche, Silikon, Pigmente, Sockel, gesamt 147,3 × 40 × 40 cm, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Schenkung der Künstlerin, Foto: Alicia Olmos Ochoa © Kunstmuseum Liechtenstein/Pamela Rosenkranz.

Die Ausstellung “Are We Dead Yet?” im Kunstmuseum Liechtenstein präsentiert rund 20 Sammlungswerke von unter anderem Edith Dekyndt, Gina Pane, Pamela Rosenkranz, Leiko Ikemura, Bruce Nauman und Matt Mullican, die teilweise nur selten oder noch gar nicht für die Öffentlichkeit zugänglich waren. Der menschliche Körper, Wasser und die Natur sind wichtige Ankerpunkte im Ausstellungsraum, der an eine Aufbahrungshalle auf einem Friedhof erinnert. Der Raum ist insgesamt recht dunkel und wird lediglich hier und da punktuell durch kleine Lichtquellen erleuchtet.

Getzner Von der Kürze der Dauer Kunstmuseum Liechtenstein gallerytalk
Christoph Getzner & Markus Getzner, Von der Kürze der Dauer, 2014, Papiermaché, Polyamid, Eitempera, 61 × 40,6 × 41,7 cm, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Schenkung der Künstler, Foto: Sandra Maier © Christoph Getzner & Markus Getzner.

Die Menschen sind “müde, busy, tot” – eine Referenz zu Falk Richters Theaterstück “Never Forever an der Schaubühne Berlin, das ganz ähnlich wie “Are We Dead Yet?” von den gesellschaftlichen Ermüdungserscheinungen erzählt. Die Protagonist*innen arbeiten bis zur Erschöpfung, suchen nach echten Begegnungen und konsumieren sie letztendlich doch nur in einem Atemzug weg, werden unfähig, sich wahrhaftig auf ihre Mitmenschen einzulassen. Das Stück zeichnet ein Bild von abgekämpften, müden Menschen, die sich letztendlich in der vermeintlichen Selbst-Optimierung und ihrem Busy-sein verlieren.

Kunstmuseum Liechtenstein Are we dead yet   Ausstellungansichten   gallerytalk
Ausstellungsansicht “Artist’s Choice: Martina Morger. Are We Dead Yet?” im Kunstmuseum Liechtenstein, Foto: Alicia Olmos Ochoa.

Eine ganz ähnliche Storyline legt die Performancekünstlerin Martina Morger, die sich in ihrem eigenen Schaffen ebenfalls mit Fragen nach gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens- und Arbeitsbedingungen beschäftigt, hier in dem dunklen Ausstellungsraum im Kunstmuseum Liechtenstein offen. “Sind wir schon tot? Oder einfach nur müde?” Schauen wir uns gegenseitig beim Verwesen zu, während wir immer besser, höher, schneller werden wollen? In einer völlig neuen Sammlungszusammenstellung bringt die Künstlerin, die in dem neuen Museumsformat “Artist’s Choice” als Kuratorin auftritt, multimediale Arbeiten zusammen, die sich kritisch mit Themen der Vergänglichkeit, dem Tod und der menschlichen Rastlosigkeit auseinandersetzen.

Eigene Arbeiten zeigt die Künstlerin nicht – stattdessen greift sie installativ mit einem großen dunkelblauen Samtvorhang in den Ausstellungsraum ein, der Assoziationen zu einem Vorhang im Theatersaal hervorruft und umhüllt die Kunstwerke, die auf dem Boden und an den Wänden platziert wurden. Martina Morger bildet mit “Are We Dead Yet?” den Auftakt der neuen “Artist’s Choice”-Ausstellungsreihe am Haus – keine Neuschöpfung des Museums, sondern ein gängiges Format, das seine Ursprünge im Museum of Modern Art in New York hat.

Marcel Odenbach Video für einen Winterabend KunstmuseumLiechtenstein gallerytalk
Marcel Odenbach, Videoarbeit für einen Winterabend, 1994, (Video for a Winter Evening), Video, Ton I Video, sound, 5′ 3”, Ed. 39/100, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz © 2023 ProLitteris, Zürich.

Die Ausstellung legt ihren Schwerpunkt auf Videoarbeiten, die sich hinter einem tiefen Blau verstecken und erst im Laufe der Begehung entdeckt werden. Martina Morger spinnt hier das Narrativ einer Beerdigung und des Friedhofs weiter – so können die Vorrichtungen im Eingangsbereich der Ausstellung, die den Blick auf drei hintereinander aufgereihte Videos versperren, als Grabsteine interpretiert werden. In “Videoarbeit für einen Winterabend” von Marcel Odenbach werden Nostalgie, Stille, Dunkelheit, eine innere Unruhe und Nachdenklichkeit transportiert. Der Künstler legt in der Arbeit Archivmaterial der Pogromnacht von 1938 über die Nahaufnahme eines gefüllten Aschenbechers, eine glühende Zigarette wird dabei ständig von einer Hand hin- und weggeführt. Die Person, über die die Betrachtenden keine näheren Informationen erhalten, scheint endlos weiter zu rauchen. In Odenbachs Arbeit treffen sich Vergangenheit und Gegenwart in einer Art Koexistenz, sie sind untrennbar miteinander verbunden.

Edith Dekyndt Paradise Syndrome Kunstmuseum Liechtenstein gallerytalk
Edith Dekyndt, Paradise Syndrome, 2014, Videoprojektion, ohne Ton; 5 Bergungshüllen, überzogen mit Blattgold, Dimensionen variabel, 19′ 27”, Loop, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Foto: Alicia Olmos Ochoa © Edith Dekyndt.

Auch das Interesse für Bodenarbeiten von Martina Morger kommt in der Ausstellung zum Vorschein. Zwei Kokosfußmatten der Künstlerin Anna Kolodziejska, die sich küssen und Fragen nach Kolonialgeschichte und globalen Wirtschaftswegen aufwerfen, eine “Wächterin” aus Papiermaché der Brüder Getzner, die den Raum stets im Blick behält und gleichzeitig wie ein kleines Gespenst über dem Kunstgeschehen schwebt oder mit Blattgold überzogene Bergungshüllen, die im Katastrophenschutz eingesetzt werden, versammeln sich auf dem Museumsboden.

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Ausstellungsansicht “Artist’s Choice: Martina Morger. Are We Dead Yet?” im Kunstmuseum Liechtenstein, Foto: Alicia Olmos Ochoa.

Neben den veredelten Hüllen auf den Boden wird die Arbeit “Paradise Syndrome” von Edith Dekyndt von einer Videoprojektion begleitet, die den hinteren Ausstellungsbereich zum Schimmern bringt. Die Wellenbewegungen des aufgenommenen Meeres werden hier vertikal an die Wand gebracht. Das Werk entstand im Kontext des Untergangs zweier Boote mit Flüchtenden aus Somalia, Eritrea und Libyen vor der Mittelmeerinsel Lampedusa im Oktober 2013. Hunderte von Menschen kamen dabei ums Leben. Eine Insel, die für traumhafte Strände und Flora bekannt ist, wird zu einer wichtigen Anlaufstelle für Geflüchtete in Seenot. Gleichzeitig bezeichnet der Titel “Paradise Syndrome” einen menschlichen Gemütszustand der Unzufriedenheit und Depression, der besonders bei Menschen im Ruhestand nach der Erfüllung aller Lebensträume und der Verlagerung ihres Wohnsitzes an einen sonnigen Urlaubsort auftritt. Und obwohl die inhaltliche Auseinandersetzung des Werkes mit Schwere, Trauer und Not verbunden ist, strahlt es eine Art Positivität aus und transportiert einen tatsächlichen Hoffnungsschimmer in den dunklen Raum. Es vereint die Ambivalenz von Gefühlen und Gemütszuständen, das Licht, die Dunkelheit und ihre Gleichzeitigkeit.

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Ausstellungsansicht “Artist’s Choice: Martina Morger. Are We Dead Yet?” im Kunstmuseum Liechtenstein, Foto: Alicia Olmos Ochoa. // Leiko Ikemura, Nada, 2009, Öl und Tempera auf Jute, 240 x 180 x 6,7 cm, Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Erworben mit Mitteln der Stiftung Freunde des Kunstmuseum Liechtenstein, Foto: Stefan Altenburger Photography, Zürich © 2023 ProLitteris, Zürich.

Neben den Video- und Bodenarbeiten finden sich auch Fotografie, Malerei und Objektkunst in “Are We Dead Yet?”. Fotos eines muslimischen Friedhofs in Marokko, die verschiedene Lebensphasen symbolisieren von Latifa Echakch, in ein Tiefschwarz wandernde Farbschichten auf der Leinwand von Leiko Ikemura, die in ihrem Gemälde “Nada” der Leere einen Ausdruck verleiht oder eine Evian-Flasche von Pamela Rosenkranz, die wie ein Pokal auf einem Sockel ausgestellt wird – mithilfe verschiedenster Medien erzählen die Exponate Geschichten von Gefühlswelten und verweisen mit erhobenem Finger auf die menschliche Sterblichkeit.

Arte Povera, die einen thematischen Schwerpunkt der Museumssammlung bildet, findet auch hier ihren gleichberechtigten Platz. So bietet beispielsweise die Arbeit von Giovanni Anselmo, bestehend aus zwei Steinen und einem Elektrokabel, mit einem negativen und positiven Pol, den Betrachtenden die Möglichkeit, zwischen Leben und Tod zu wählen. Werden beide Pole berührt und zusammengeführt, trifft sie der Schlag. Und auch wenn die Arbeit hier im Ausstellungsraum nicht mit Elektrizität verbunden ist, löst das bloße Gedankenspiel eine gewisse innere Unruhe aus. Binnen weniger Sekunden kann es aus sein. Ein alamierender Moment des Wachrüttelns.

Bruce Nauman Eat Death  Kunstmuseum Liechtenstein gallerytalk
Bruce Nauman, Eat Death, 1972, Neonröhren mit Klarglasröhren­Aufhängerahmen, Kabel, Trafo, 18,7 × 64,1 × 5,3 cmEd. 5/6, Privatsammlung / Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Foto: Sandra Maier © 2023 ProLitteris, Zürich.

Mit “Are We Dead Yet?” beschreibt die Künstlerin und Kuratorin Martina Morger den langsamen und nicht aufzuhaltenden Sterbeprozess des Lebens. Sie macht sich sowie dem Museumspublikum der Einmaligkeit unseres Seins bewusst und holt das Thema Tod, das gesamtgesellschaftlich noch immer ein unbequemes ist, aus der Tabu-Schublade heraus. Der Tod ist unausweichlich, was das Leben umso lebenswerter macht. Und so stark die ausgestellten Werke in der Ausstellung auch um die Vergänglichkeit kreisen, ein Ende zeigen oder markieren, so finden sie ihren Platz im Hier und Jetzt, wo das Leben noch pulsiert. Leben und Tod sind eng miteinander verwoben, bedingen sich gegenseitig. Auch den Umgang mit einer Museumssammlung vergleicht Martina Morger mit der Pflege eines Grabes, es beinhaltet ein ständiges Sorgetragen und Verantwortungsbewusstsein, sich auch den vermeintlich unangenehmen Themen zu widmen und sie in den Lebensalltag zu integrieren.

“Are We Dead Yet?” erzählt nicht in erster Linie von einem bedrückenden, traurigen Ende des Lebens. Die Ausstellung ist vielmehr ein sanfter Hinweis auf unsere Endlichkeit, auf Hoffnung und Erinnerungen, die wir in uns und durch das Leben tragen. “It’s always darkest before the dawn” (“Am dunkelsten ist es vor der Dämmerung”). So besingt es auch die britische Band Florence + The Machine in ihrem Song “Shake It Out” – damit Licht entstehen kann, braucht es die Dunkelheit und das macht die Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein einmal mehr deutlich.

WANN: Die Ausstellung läuft bis zum 6. August 2023.
WO:
Kunstmuseum Liechtenstein, Städtle 32, 9490 Vaduz.

Vielen Dank für die Presse-Einladung nach Vaduz und die Übernahme der Reisekosten.