Konzeptuelle Komplexitäten
Matt Mullicans Lebenswerk in der Hansestadt Lübeck

1. November 2022 • Text von

Das Werk des Konzeptkünstlers Matt Mullican zu begreifen, ist kein leichtes Unterfangen. Er bewegt sich innerhalb seiner Arbeit in Millionen Zwischenwelten und verhandelt diese mithilfe diverser Medien, Techniken und eigener kosmologischer Systeme. Die Possehl-Stiftung in Lübeck zeichnet Matt Mullican in diesem Jahr mit dem Preis für Internationale Kunst aus und zeigt in der Kunsthalle St. Annen mit “Mapping the World” nun eine umfassende Werkschau seiner letzten 50 Schaffensjahre.

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Matt Mullican, FIVE WORLD CHART ON BRICK, Terrasse Europäisches Hansemuseum Lübeck, 23.09.–13.11.2022, Foto: Olli Schmitt.

Die Werke von Matt Mullican bewegen sich in diesem Jahr durch die gesamte Altstadt von Lübeck. Die gemeinnützige Possehl-Stiftung, die das Vermächtnis des deutschen Kaufmannes Emil Possehl verwaltet, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kunst und Kultur in der Hansestadt besonders zu fördern. Dass man Lübeck in erster Linie mit mittelalterlichen Kulturschätzen und Architektur, wie das Holstentor, die Heiligen-Geist-Anstalt oder den Dom, in Verbindung bringt, ist völlig klar – die Stiftung möchte deshalb ganz gezielt das Augenmerk auf die zeitgenössische Kunst richten und aktiv daran mitwirken, die Stadt Lübeck zu einem lebendigen Ort des Kunstschaffens weiterzuentwickeln. Seit 2018 vergibt die Stiftung deshalb jährlich einen Kunstpreis an lokale zeitgenössische Künstler*innen, alle drei Jahre an internationale Künstler*innen. Kunstschaffende können sich selbst mit eigenen Projekten vorschlagen und mit etwas Glück ein Preisgeld von 8000 Euro gewinnen. Das Gremium, das die Gewinner*innen kürt, besteht aus unterschiedlichen Akteur*innen und Führungspersonen des Kunstbetriebs und wird im Rhythmus von drei Jahren neu zusammengestellt. In diesem Jahr darf Matt Mullican sich der glückliche Gewinner des Possehl-Preises für Internationale Kunst nennen.

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MATT MULLICAN. MAPPING THE WORLD, 50 YEARS OF WORK, Kunsthalle St. Annen, Lübeck, Foto: Fred Dott.

Nachdem in den letzten Monaten bereits an verschiedenen Orten der Stadt Arbeiten von Matt Mullican im öffentlichen Raum zu sehen waren, wurde nun auch die große Einzelausstellung “50 Years of Work. Mapping the World” in der Kunsthalle St. Annen eröffnet. Kuratiert und begleitet wurde das Gesamtprojekt von Dr. Oliver Zybok, Direktor der Overbeck-Gesellschaft in Lübeck. In Vorbereitung besuchte er den Künstler und seine Familie in New York und Long Island privat, um seine Arbeitsweise, sein Umfeld und komplexes künstlerisches Werk intensiver kennenlernen zu können.

Die Herangehensweise von Matt Mullican an die Kunst basiert auf mehreren Komplexitäten und eigens entwickelten kosmologischen Systemen, die sich durch seine Werke ziehen. Die Kosmologie beschäftigt sich per Definition mit dem Ursprung des Universums und dem strukturellen Aufbau des Kosmos. Der Begriff steht demnach für ein großes und komplexes Geflecht – etwas, mit dem wir auch in Matt Mullicans Kunst konfrontiert werden. Er findet in seiner Arbeit ganz eigene kosmologische Ansätze, Strukturen in das große Durcheinander der Welt zu bringen und es nach eigenen Maßstäben zur ordnen. Doch die verwendeten Materialien und Techniken sind dabei so komplex wie seine Ordnungssysteme: So finden sich in “Mapping the World” Zeichnungen und Malereien auf Papier, Leinwänden oder Bettlaken von Ikea sowie eigene Videoarbeiten oder Zeugnisse von Performances, bei denen sich der Künstler in eine Art Trance-Zustand begibt. Davon nicht genug. Auch Skulpturen, Fotografien, 3D-gedruckte oder Glasobjekte finden sich in den Ausstellungsräumen auf vier Ebenen verteilt – von den frühen 1970er-Jahren bis heute.

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Matt Mullican, Berlin Block, 2019/20, Oil stick rubbing on canvas, unstrectched, 209-tlg., je 200 x 200 cm, Detail, Courtesy Mai 36, Zürich.

Der Konzeptkunst von Matt Mullican liegen folgende zwei Kosmologien zugrunde: zum einen einer allgemeinen Unterteilung zwischen Himmel und Hölle und den grundlegenden Fragen des Lebens, wie zum Beispiel woher wir kommen, wo wir hin wollen, Fragen nach der eigenen Identität oder der Identität eines fiktiven künstlerischen Ichs. Diese Unterteilung ist dabei weniger religiös gemeint als vielmehr spirituell und existenziell. Zum anderen, und hier wird es etwas komplizierter, unterteilt Matt Mullican seine Werke mithilfe von klaren, einfachen Formen und fest zugewiesenen Farben in fünf Welten. Auf eben diese Formen und Farben stößt man während des Ausstellungsbesuches immer wieder. Die Farbe Grün steht in seinen Arbeiten für die Materie, Blau repräsentiert unsere Alltagswelt, Schwarz und Weiß die Sprache, Rot alles Subjektive und Gelb die Künste beziehungsweise das Bewusstsein. Diese Farben in Kombination mit geometrischen Formen beziehen sich immer auf die Fünf-Welten-Kosmologie des Künstlers.

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MATT MULLICAN. MAPPING THE WORLD, 50 YEARS OF WORK, Kunsthalle St. Annen, Lübeck, Foto: Fred Dott.

Matt Mullican gehörte einer losen Künstler*innenvereinigung an, der sogenannten “Pictures Generation”, die sich ab Ende der 1960er-Jahre bis in die 1980er-Jahre hinein zunehmend mit dem Aufkommen und Einfluss massenmedialer Bilder in der Alltagswahrnehmung auseinandersetzten. Seine Kunstwerke stehen dementsprechend stellvertretend für die Komplexität unserer Welt und Realität und gleichzeitig von Millionen weiterer Zwischenwelten. Im Gespräch mit gallerytalk.net berichtet der Künstler davon, dass es sich in seinem Werk immer um eine Vielzahl von Welten und Realitäten handele, daher sei auch der Ausstellungstitel “Mapping the World” leicht irreführend, da es nicht nur um die uns bekannte Welt, auch nicht um seine eigene, geht. Es gehe um eine Abstraktion.

Er springt zwischen den vielen Welten umher, manche sind explizierter, manche nur vage erkennbar, was an den Ausführungen der Werke erkennbar wird. Mal wirkt ein Werk vollständig und in sich abgeschlossen, mal deuten nur lose Striche auf die Vorstellung einer Idee hin. Begegnen die Besucher*innen einem kleinen Strichmännchen in Mat Mullicans Arbeiten, kann man sicher sein, dass es sich hierbei um Glen handelt – eine Art Alter Ego des Künstlers. An einer Stelle hat er Glen in zarten Bleistiftstrichen sogar direkt auf die Wand eines Ausstellungsraumes gebracht. Er ist meist in simplen Alltagssituationen in einem leeren Raum, mal in einem Atelier, zu sehen oder drückt bestimmte Emotionen aus. Die skulpurale Arbeit “Das schlafende Kind”, eine Holzlatte, die auf einem Kopfkissen liegt, bildet laut Matt Mullican den visuellen Ausgangspunkt für seinen Charakter Glen.

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MATT MULLICAN. MAPPING THE WORLD, 50 YEARS OF WORK, Kunsthalle St. Annen, Lübeck, Foto: Fred Dott.

Der Künstler arbeitet sowohl mit Zeichen und Symbolen als auch mit geschriebenen Worten. Das Zusammenspiel all dieser Elemente löst beim Ausstellungsbesuch zunächst das vertraute Gefühl der Erkennbarkeit aus und stellt im Kopf Verknüpfungen her – auf trügerische Weise. Wir sehen teilweise Gewohntes. Der Künstler arbeitet mit Elementen unseres Alltags und Medienkonsums und stellt sie in einen völlig neuen Zusammenhang, der uns schlussendlich doch daran hindert, das Dargestellte und die implizierte Bedeutung in seiner Gesamtheit völlig zu begreifen. Darin liegt die große Herausforderung im künstlerischen Werk von Matt Mullican. Auch wenn vieles auf den ersten Blick nicht direkt greifbar wird, so zeigt seine Kunst doch eines eindeutig auf, nämlich, dass künstlerische Praxen vielschichtige Ausdrucksformen und Bedeutungsebenen haben können.

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MATT MULLICAN. MAPPING THE WORLD, 50 YEARS OF WORK, Kunsthalle St. Annen, Lübeck, Foto: Fred Dott.

Interessant an der konzeptuellen Arbeit von Matt Mullican ist, dass sie in erster Linie über Ordnungssysteme zu funktionieren scheint. Der Künstler hat sich innerhalb der vielen verschiedenen Zwischenwelten, durch die er sich mal tiefer, mal oberflächlicher, bewegt, ein für sich und seine künstlerischen Persönlichkeiten funktionierendes System geschaffen, durch das er die vielen Bilder und Einflüsse versucht greifbarer zu machen, sie gewissermaßen zu schematisieren und einzuordnen. Und dennoch verursachen die vielen Exponate, die “Millionen” kleinteiligen Bilder, Symbole und Worte irgendwie genau das Gegenteil. Sie überschwemmen einen. Man verliert zweitweise immer wieder den Überblick, den einen nötigen Anknüpfungspunkt bis man auf dem Weltenbummel doch einem vertrauten Element begegnet und sich wieder eine kurze Beruhigung einstellt. Mullican bringt den klassischen Kunstbegriff so stark an seine Grenzen, dass sich eine Gesamtschau der letzten 50 Jahre wie eine wilde Achterbahnfahrt der Sinneswahrnehmungen anfühlt. Er bricht mit einem Denken in kunsthistorischen Kategorien, obwohl er selbst mit konstruierten “Schubladen” arbeitet.

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MATT MULLICAN. MAPPING THE WORLD, 50 YEARS OF WORK, Kunsthalle St. Annen, Lübeck, Foto: Fred Dott.

Der Künstler gibt im Gespräch ganz offen zu: “Ich bin sehr unsicher mit meiner eigenen Arbeit. Immer.” Die vermeintliche Sicherheit, die eine Erklärung für die Komplexität unserer Welt und aller sonstigen Dimensionen und fiktiven Sphären gibt es nicht, auch nach 50 Jahren Kunstschaffen nicht. Zum Glück muss Kunst keine konkreten Antworten und Deutungen liefern, sie darf auch in einem Stadium irgendwo davor, in Bereichen von vagen Ideen, Gedanken und Verwirrungen, existieren. Kunst ist eben ein Ausdruck von all dem, was irgendwie raus muss – im Fall von Matt Mullican nimmt das sehr viele verschiedene Formen und Farben an, was seine Arbeiten wahnsinnig spannend, teilweise überfordernd und vielseitig macht. Sein Lebenswerk ist für Besucher*innen eine Herausforderung, der es sich zu stellen lohnt. Auch wenn wir vielleicht nicht auf Anhieb das begreifen, was der Künstler den Werken eingeschrieben hat, so finden wir ganz sicher eigene Assoziationen und Anknüpfungspunkte zu unseren eigenen inneren Gedankenwelten.

WANN: Die Ausstellung “Mapping the World. 50 Years of Work” in der Kunsthalle St. Annen ist bis zum 8. Januar 2023 zu sehen, die Arbeiten “Five Color Garden” auf dem Dach des Europäischen Hansemuseum und “Berlin Block” in der St. Petri Kirche nur noch bis zum 13. Und 6. November 2022.
WO:
Kunsthalle St. Annen, St.-Annen-Strasse 15, 23552 Lübeck.

Vielen Dank für die Presse-Einladung nach Lübeck und die Übernahme der Reisekosten.