Malerei als Protest
Sabine Moritz bei Marian Goodmann

22. Juli 2022 • Text von

Sie erzählt von Kompositionen klassischer Musik, handelt von Gefühlen, Erinnerungen, Kriegsgeschehnissen, verbindet Vergangenheit und nicht zuletzt Literatur – die Malerei der deutschen Künstlerin Sabine Moritz ist inhaltlich wie formal vielfältig, ausdrucksstark und entzieht sich dabei jeglicher Kategorisierung. Anlässlich ihrer Einzelausstellung in der New Yorker Galerie Marian Goodman sprach die in Köln lebende Künstlerin mit gallerytalk.net über Malerei als Protest und ihr Aufwachsen in der DDR.

Eine rot-schwarze Zeichnung.
Sabine Moritz, Shostakovich IV, 2022, Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery Copyright: Sabine Moritz Photo credit: Alex Yudzon

Als ich Ihre neuen Werke gesehen habe, ist mir direkt “Shostakovich IV” aus einer Serie von 17 Zeichnungen (2022) aufgefallen, das durch seine expressive rote Farbe und den starken Duktus eine ungemeine Ausstrahlung besitzt. Ich habe den russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch eigentlich erst durch die Lektüre von dem Roman “Der Lärm der Zeit” des englischen Autors Julian Barnes richtig kennengelernt. Sind die Werke dieser Serie nach einer bestimmten Sinfonie oder einem Konzert von Schostakowitsch inspiriert?
Das Buch von Julian Barnes habe ich vor einiger Zeit auch gelesen und bin großer Fan des Autors. Man versteht erst auf den zweiten Blick, wie großartig Barnes schreibt. Mit Schostakowitsch hatte ich mich bis dahin auch nicht beschäftigt und keine konkrete Idee von seiner Musik gehabt. Ich hatte ihn immer im Hinterkopf als eine besondere Figur, die durch die Umbrüche, Widersprüche und Katastrophen der Zeit des stalinistischen Systems gegangen ist. Eine Zeit, die er schließlich auch in sich verkörpert. Ich habe etwas über ihn gelesen und seit Januar höre ich seine Streichquartette. Anfangs habe ich das kaum verstanden, weil ich die Musik als so widersprüchlich und widerborstig empfunden habe. Ich begann, nebenbei zu zeichnen. Somit ist diese Serie von 17 Zeichnungen entstanden und parallel dazu begann der Krieg in der Ukraine. 

Schostakowitschs 8. Sinfonie in c-Moll, als “Stalingrad Sinfonie” bezeichnet, wurde 1943 in Moskau uraufgeführt. Die Komposition entstand unter dem Eindruck der Kriegsgeschehnisse und kündet von dem individuellen Leid und der Trauer über die Opfer. Nun haben wir die kriegerischen Auseinandersetzungen direkt an der Grenze zu Europa. Hat diese Begebenheit somit durch diese Serie Eintritt in Ihr Werk gefunden?
Die Zeichnungen sind eher beiläufig entstanden, aber haben viel zu tun mit den Gefühlen, die dieser Krieg auslöst. Zwischenzeitlich hat man sich ja erschreckenderweise fast schon wieder daran gewöhnt. Jetzt in der Ausstellung in der Marian Goodman Gallery in New York habe ich diese Serie dem Bild “Rast” von 2011 gegenüber gehängt. Darauf sind russische Soldatinnen oder Funkerinnen zu sehen, die in einem Wald Pause machen. Man sagt ja immer russisch – aber eigentlich waren es sowjetische, das heißt, es können beispielsweise Ukrainerinnen, Russinnen oder Lettinnen gewesen sein, die alle zur Roten Armee eingezogen wurden oder sich freiwillig gemeldet hatten und gemeinsam kämpften. Das Bild war in meiner ersten Ausstellung “Limbo 2013” bei Marian Goodman in Paris zu sehen. Es war Teil einer Gruppe von Bildern, die sich inhaltlich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt hat.

Innenansicht der Ausstellung Sabine Moritz bei MARIAN GOODMAN
Sabine Moritz Installation view, Marian Goodman Gallery, New York, 2022, Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery Copyright: Sabine Moritz Photo credit: Alex Yudzon

Dieser Dialog funktioniert meiner Meinung nach sehr gut! Gleichzeitig ist es erschreckend, dass solch ein Gemälde wieder so eine Aktualität erhält.
Im Grunde ist unfassbar und wenig bekannt, welche Verbrechen in der Stalinzeit vonstatten gegangen sind, von denen wir zu wenig wissen. Es geht jedoch nicht nur um den einzelnen, sondern um eine ganze Gesellschaft, die zusätzlich zur Kriegserfahrung in einem Regime der Angst und der Willkür leben musste. Diese Prägungen machen etwas mit einer Gesellschaft und der heutige Krieg in der Ukraine hat damit zu tun. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion und dem Niedergang der sozialistischen Systeme konnten die Verbrechen nicht so aufgearbeitet werden, dass ein neuer Totalitarismus unmöglich geworden wäre.

Das ist für meine Generation auch nicht leicht nachzuvollziehen, inwieweit sich die Folgen der systematischen Unterdrückung weitergetragen haben und die heutige Politik und die Gesellschaft der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor beeinflussen.
Man sieht Bilder der verzweifelten Menschen und weiß, dass die Älteren unter Ihnen den Zweiten Weltkrieg erlebt haben und nun müssen sie wieder so etwas durchmachen; das ist derartig verstörend. Wir haben viel zu wenig auf die Geschichte und auf Geschichten aus Osteuropa beziehungsweise den post-sowjetischen Raum geachtet. Gerade habe ich “Im Menschen muss alles herrlich sein” von Sasha Marianna Salzmann gelesen. Und, um noch zwei Beispiele zu nennen von Nino Haratischwilis “Das achte Leben (Für Brilka)” und Natascha Wodins “Sie kam aus Mariupol”.

Die Künstlerin Sabine Moritz
Sabine Moritz Portrait, Copyright: Sabine Moritz.

Sie selbst sind in der DDR aufgewachsen, in Jena, in der Nähe von Weimar. Mehrfach habe ich gelesen, dass Erinnerungskultur eine tragende Rolle in Ihrem Oeuvre spielt. Die Serie “Lobeda”, die unter anderem auch in New York ausgestellt ist, zeigt Ihre Kindheit in Jena?
Ich ging in dieser Serie, die nicht in New York, aber ab Ende August in der Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg, zu sehen sein wird, von einem ganz persönlichen Bezug aus. Die “Lobeda”-Arbeiten sind 1991/92 entstanden. Das war ein schräges Projekt; ich war noch Studentin und habe in Gedanken durchgescannt, was meine Kindheit geprägt hat und wo ich aufwuchs. Im Prinzip versuchte ich zu verstehen, warum alles so war, wie es war. Das Nachdenken bedeutete einen Rückbezug zur Vergangenheit. Ich arbeitete die Dinge ab. In den ersten Zeichnungen habe ich nur gezeichnet, an was ich mich erinnert und was ich gesehen habe. Dabei habe ich in den “Lobeda”-Arbeiten viele eigenartige, formale Entscheidungen unbewusst getroffen, denn ich versuchte dafür einen eigenen Stil zu entwickeln. Später interessierte mich dann eine allgemeinere Befragung: Was war das für eine Zeit? Was ist in der DDR passiert? Ich wollte dieses DDR-Gebilde, das ja letztlich nur 40 Jahre existiert hat, verstehen. Damals, während des Aufwachsens, war es für mich die ganze Welt und später empfand ich es als ein Konstrukt.

Ein Gemälde eines Totenkopfes und eine Zeichnung von Sabine Moritz.
Sabine Moritz, Skull, 2016, Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery Copyright: Sabine Moritz Photo credit: Alex Yudzon // Sabine Moritz, Laboratory 18, 2016, Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, Copyright: Sabine Moritz, Photo credit: Rebecca Fanuele.

In einem Gespräch, das Sie mit Hans-Ulrich Obrist und der mittlerweile verstorbenen libanesischen Schriftstellerin Etel Adnan führten, erzählten Sie, dass Ihre Mutter damals entschied mit Ihrer Familie in den Westen zu gehen. 
Meine Mutter hat einen Ausreiseantrag gestellt. Das war 1983 und wir wussten nicht, wann oder ob er überhaupt genehmigt wird. In dem Sinne konnte man sich für den Versuch entscheiden, in den Westen zu gehen, aber ob man da jemals ankommen würde, das war nicht gewiss. Wir mussten nur zwei Jahre warten. 

Man liest immer wieder, dass die Menschen, die in den Westen kamen überwältigt waren von dem Angebot an Waren, die plötzlich auf einen einprasselten. Was waren Ihre Eindrücke?
Das war wirklich überwältigend. Ich war damals erst sechzehn Jahr alt, ein sehr spezielles Alter. Um es kurz zu sagen – es hat mir nicht sonderlich gefallen (lacht)! Ich hatte es mir anders vorgestellt. Interessant waren allerdings die Buchläden. Plötzlich waren alle Bücher, die man in der DDR nicht bekommen konnte oder von denen man nur gehört hatte, zum Beispiel George Orwells “1984” oder Werke von Ingeborg Bachmann, zur freien Verfügung. 

Innenansicht der Ausstellung Sabine Moritz bei MARIAN GOODMAN
Sabine Moritz Installation view, Marian Goodman Gallery, New York, 2022, Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery Copyright: Sabine Moritz Photo credit: Alex Yudzon

Apropos Literatur – ist das auch eine Quelle der Inspiration für Ihre abstrakten Gemälde, die Sie nun auch in New York zeigen?
Das kann sein. Beim Malen höre ich manchmal Bücher. Aber neue Ideen entstehen während und durch die Arbeit an den Gemälden. Es ist eine Art “Flow”, in dem sich eine Kommunikation zwischen dem Material, den Farbtönen und den Bewegungen im Bildraum entwickelt.

Eine Kommunikation mit dem Material finde ich sehr schön ausgedrückt. In Ihrer aktuellen Ausstellung zeigen Sie eine Serie mit dem Titel “Leviathan”, die die Erscheinung des Seedrachens aus der jüdischen Mythologie sehr gut wiedergeben. Wie kommen Sie auf die Titel?
Meist gibt es erst das Bild und dann den Titel. Die Titel beziehen sich auf Naturphänomene, auf emotionale oder innere Phänomene oder auch auf die Mythologie, wie eben im Falle der “Leviathan”-Serie. Die Titelgebung erfolgt im Nachhinein – da leiste ich mir eine Freiheit und hoffe, dass sich die BetrachterInnen ebenfalls diese Freiheit nehmen, zu assoziieren, Phantasie zu entwickeln oder eine Vielschichtigkeit von Bedeutungen zuzulassen. Im Falle der “Leviathan”-Bilder kam es, weil mir der Titel gefällt – das Meerungeheuer ist eine schöne Metapher. Natürlich drücken diese Bilder – aber das mag weit gegriffen sein – auch eine Form von Protest oder Verzweiflung über den aktuellen Zustand der Welt aus. Oder auch die Hoffnung, dass es besser wird und dass der Krieg aufhören wird. Das ist, was ich mir gerade am meisten wünsche!

WANN: Die Einzelausstellung von Sabine Moritz ist bis einschließlich Freitag, den 19. August, zu sehen.
WO: Marian Goodman Gallery, 24 West 57th Street, New York, NY 10019.

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