Geschichten aus der Diaspora
Perspektiven internationaler zeitgenössischer Kunst

5. April 2023 • Text von

Was bedeutet kulturelle Identität außerhalb nationaler Grenzen? Die zeitgenössische Kunst liefert vielfältige Zugänge zu Geschichten unterschiedlicher Diasporagruppen. Wir empfehlen fünf Ausstellungen in Freiburg, Berlin und Frankfurt.

Jala Wahid kunstverein freiburg gallerytalk
Jala Wahid, Mock Kings, Installationsansicht, Kunstverein Freiburg, 2023, Foto: Marc Doradzillo.

Ausstellung “Jala Wahid: Mock Kings”

Können Wissenslücken künstlerisch dargestellt werden? In ihrer ersten deutschen institutionellen Ausstellung “Mock Kings” im Kunstverein Freiburg beschäftigt sich Jala Wahid mit der karnevalesken kurdischen Performance “Mîrmîran”, über die heute nur noch wenig bekannt ist.

Die Performance befähigte einen falschen König, den “Mock King”, zur Ausübung der temporären Regierungsmacht und dem Erteilen von Befehlen an die Bevölkerung. Während der britischen Besatzung wurde sie als politische Bedrohung eingestuft, ab 1922 verboten und damit weitere Überlieferungen unterbunden.

Die Ausstellung ist ein Versuch, fehlendes historisches Wissen in den Blick zu nehmen und wirft komplexe Fragen auf: nach kolonialen Machtgefügen, Archäologie, Erinnerung, Bewahrung und der Zerstreuungen diasporischer Realität.

WANN: Die Ausstellung “Mock Kings” läuft bis zum 14. Mai 2023.
WO:
Kunstverein Freiburg, Dreisamstraße 21, 79098 Freiburg.

Der Tipp kommt von Carolin Kralapp.

indigo waves gropius bau gallerytalk
Jennifer Tee, Tampan Sessile Beings, Sacred Shrine, 2022. Tulpenblüten-Collage, Piezographie auf 315 Gramm Museumsradierpapier (gerahmt), 170 x 165 cm. Courtesy: die Künstlerin und Galerie Fons Welters, Amsterdam. // Adama Delphine Fawundu, Sopdet Illuminates, 2017. Archivpigment auf 100% Baumwollfaserpapier, 23 x 34 1/2 Zoll. Courtesy: die Künstlerin.

Ausstellung “Indigo Waves and Other Stories”

Der Indische Ozean ist das verbindende Element der Ausstellung “Indigo Waves and Other Stories” im Berliner Gropius Bau. Jennifer Tees Collage aus Tulpenblättern verweist in mehrerlei Hinsicht auf ihre Biografie. Das Muster ist Tampan-Tücher aus Lampung im Süden der indonesischen Insel Sumatra nachempfunden. Die Familie der Künstlerin verließ das Land in den 50er-Jahren in Richtung Niederlande – daher die Blüten der dortigen Nationalblume.

Auch Adama Delphine Fawundus Fotografie “Sopdet Illuminates” trägt die Referenz bereits im Titel. Die altägyptische Göttin Sopdept galt als Bringerin der Nilüberschwemming. Fawundu hat für ihre Serie verschiedene afrikanische Wassergottheiten, darunter auch Mami Wata, verkörpert. Anhand verschiedener künstlerischer Positionen eröffnet die Ausstellung Perspektiven auf antike Routen transregionaler Forschungs- und Handelsreisen, Migrationsbewegungen und afroasiatischen Austausch.

WANN: Die Ausstellung “Indigo Waves and Other Stories: Re-Navigating the Afrasian Sea and Notions of Diaspora” eröffnet am Donnerstag, den 6. April. Sie läuft bis zum 13. August.
WO: Gropius Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin.

Der zweite Teil der Ausstellung “Indigo Waves” ist ab Donnerstag, den 20. April, bei SAVVY Contemporary zu sehen.

Der Tipp kommt von Anna Meinecke.

Sung Tieu, Form (for Residence Permit), 2023; Block G (Gehrenseestrasse, Berlin), 2023, Ausstellungsansicht Sung Tieu. No Jobs, No Country, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), 2023. Foto: © n.b.k. / Jens Ziehe

Ausstellung “Sung Tieu. No Jobs, No Country”

In der Soloausstellung “No Jobs, No Country” im n.b.k erzählt die deutsch-vietnamesische Künstlerin Sung Tieu von der kollektiven Geschichte der vietnamesischen Gastarbeiter*innen, die im Zuge des Anwerbeabkommens der DDR mit der Sozialistischen Republik Vietnam Arbeit in den vielen volkseigenen Betrieben im Berliner Umland fanden. Im Zentrum der Ausstellung steht der Wohnhauskomplex in der Gehrenseestraße, einer Plattenbausiedlung aus neun baugleichen Hochhäusern, in denen die Gastarbeiter*innen damals unter strengen Reglementierungen leben konnten.

In ihrer Ausstellung zeigt Tieu eine monolithische Stahlskulptur, die dem Grundriss eines der Gebäude nachempfunden ist und mit umliegender Erde aufgefüllt ist. Sie selbst lebte von 1994 bis 1997 in einem der Hochhäuser, wovon einige Fotografien aus dem privaten Besitz der Künstlerin zeugen. “No Jobs, No Country” erzählt von bürokratischen Machtstrukturen und der kollektiven Geschichte der vietnamesischen Diaspora in Deutschland und verwebt diese mit autobiographischen Erzählungen der Lebensumstände in der Plattenbausiedlung.

WANN: Die Ausstellung “No Jobs, No Country” von Sung Tieu läuft bis zum 7. Mai.
WO: Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestraße 128-129, 10115 Berlin.

Der Tipp kommt von Katrin Krumm.

Portikus Lap See Lam gallerytalk
Lap-See Lam, Tales of the Altersea, Installationsansicht, Portikus, Frankfurt am Main, 2023, Courtesy die Künstlerin und Galerie Nordenhake, Stockholm/Berlin/Mexiko Stadt. Foto: Alwin Lay.

Ausstellung “Lap-See Lam. Tales of the Altersea”

Gebaut in Shanghai, angedockt in Götheburg, wieder entdeckt für Stockholm, so die Reiseroute der „Sea Palace“. Das historischen Zeichnungen nachempfundene Restaurantschiff erfährt derzeit eine zweite Karriere als Freizeitpark-Inventar. Geschichte und Dekor des Schiffs dient Lap-See Lam als Ausgangspunkt für ihre Ausstellung „Tales of the Altersea“ im Frankfurter Portikus.

Lams Eltern betrieben in Schweden ein chinesisches Restaurant. Als in den 2010er Jahren viele der Gaststätten in finanzielle Schieflage gerieten, begann die Künstlerin 3D-Scans der Räumlichkeiten anzufertigen. Die Reproduktionen fließen ein in Lams Skulpturen und Videoarbeiten, in denen sie sich der kulturellen Transformation der Hong-Kong-chinesischen Diaspora in Europa widmet.

Im Portikus erzählt die 8-Kanal-Videoinstallaion „Tales of the Altersea“ von den Schwestern Dahlia und Julie. Auf einer Unterwasserreise zum Wrack der „Sea Palace“ begegnen sie verschiedenen Figuren, die der kantonesischen Mythologie und Geschichte entlehnt sind.

WANN: Die Ausstellung “Tales of the Altersea” von Lap-See Lam läuft bis zum 28. Mai.
WO: Portikus, Maininsel, Alte Brücke 2, 60594 Frankfurt am Main.

Der Tipp kommt von Anna Meinecke.

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Amedeo Modigliani, Porträt von Dédie, 1918, FR, Paris, MNAM – Centre Pompidou. // Blick in die Ausstellung „Paris Magnétique. 1905–1940“, Jüdisches Museum Berlin, Foto: Yves Sucksdorff.

Ausstellung “Paris Magnétique. 1905–1940”

Paris ist heute wie gestern Sehnsuchtsort, Nukleus der Kunstszene, Anziehungspunkt für Freigeister aus der ganzen Welt. Besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts barg Paris als kosmopolitische Weltstadt das Versprechen von einem besseren Leben fernab von Diskriminierung und Marginalisierung. Die französische Hauptstadt wurde so zum Auffangbecken all derer, die ihrem alten Leben entfliehen wollten und nach einem Neubeginn suchten. Viel geändert hat sich daran nicht, verlagert sich die Kunstszene doch heute zunehmend von Berlin und London zurück nach Paris.

Das Jüdische Museum Berlin widmet sich mit der Ausstellung “Paris Magnétique. 1905–1940” explizit jüdischen Künstler*innen der Pariser Schule. Bekannte Positionen wie Marc Chagall, Amedeo Modigliani oder Sonia Delaunay zeigen, wie sehr migrantische Positionen das westliche Kunstverständnis bis heute prägen. Es ist die erste Ausstellung in Deutschland, welche die jüdisch-europäische Vielfalt des Paris der 20er-Jahre zum alleinigen Thema hat.

WANN: Die Ausstellung “Paris Magnétique. 1905–1940” läuft bis Montag, den 1. Mai.
WO: Jüdisches Museum Berlin, Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin.

Der Tipp kommt von Julia Stellmann.

In freundlicher Zusammenarbeit mit dem Gropius Bau.